Im Abseits
Verärgerung und Ratlosigkeit in Paris. Ohnmacht in Brüssel. Was die jüngsten Alleingänge der Biden-Regierung für Deutschland und die EU bedeuten.
Hat sich seit Trumps Abgang als Präsident der Vereinigten Staaten zwar der Ton in den transatlantischen Beziehungen, nicht aber die Substanz der „America First“-Politik geändert? Die beiden außen- und sicherheitspolitischen Alleingänge der Biden-Regierung innerhalb weniger Wochen drängen diesen Verdacht auf.
Beim Abzug der Truppen aus Afghanistan stellte US-Präsident Biden die Verbündeten der Koalition, einschließlich die der NATO, vor vollendete Tatsachen. Mit der schlichten Feststellung „Es war an der Zeit, den Krieg zu beenden.“ setzte Biden Trumps Deal mit den Taliban um, ohne die Partner auch nur zu konsultieren. Franzosen, Briten, Deutsche und viele andere vor Ort in Kabul hatten keine andere Wahl, als holterdiepolter die Sachen zu packen und in einer dramatischen Rückführungsaktion die eigenen Landsleute und einige Tausend afghanische Ortskräfte – aber längst nicht alle – nach Hause zu holen. Mit der Faust in der Tasche und guter Mine zum bösen Spiel, blieb den Europäern nichts anderes übrig, als der US-Politik zu folgen.
Hat sich seit Trumps Abgang als US-Präsident zwar der Ton in den transatlantischen Beziehungen, nicht aber die Substanz der „America First“-Politik geändert?
Mitte September dann die nächste einsame Entscheidung als die USA das AUKUS-Bündnis mit Australien und Großbritannien im Pazifik lancieren und den Export acht nuklear angetriebener U-Boote nach Australien ankündigen. Das Pikante an diesem riesigen Rüstungsexportgeschäft: Vor fünf Jahren hatte Frankreich bereits in Konkurrenz zum deutschen U-Bootbauer Thyssen Krupp die Lieferung von 12 Diesel angetriebenen U-Booten vertraglich vereinbart. Dieser bereits begonnene Auftrag im Wert von 56 Milliarden Euro ist nun geplatzt. Das neue Bündnis und die Rüstungslieferungen sind nicht nur ein Hinweis darauf, dass im weltweiten Konkurrenzkampf im Rüstungstransfer mit harten Bandagen gekämpft wird. Sie sind auch ein deutliches Signal an China, im indo-pazifischen Raum nicht nach Belieben schalten und walten zu können. Die Reaktion Chinas wird vermutlich nicht lange auf sich warten lassen.
Frankreich nannte das amerikanische und australische Verhalten „inakzeptabel zwischen Alliierten und Partnern“ und rief die französischen Botschafter aus Washington und Canberra zu Konsultationen zurück nach Paris. Es war das erste Mal in der Geschichte der seit 1778 bestehenden Beziehungen zwischen den USA und Frankreich, dass ein Botschafter abgezogen wurde. Ohne Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten hieß es in Paris, die amerikanische Entscheidung sei „brutal“ und Australiens Verhalten „ein Dolchstoß in den Rücken.“ Und Le Monde leitartikelte: „Wer immer noch zweifelte: Die Biden-Administration ist in dieser Hinsicht nicht anders als die Trump-Administration. Die Vereinigten Staaten kommen zuerst, sei dies strategisch, ökonomisch, finanziell oder im Gesundheitswesen. ‚America First‘ ist die Leitlinie für die Außenpolitik des Weißen Hauses.“
Mit der Faust in der Tasche und guter Mine zum bösen Spiel, blieb den Europäern nichts anderes übrig, als der US-Politik zu folgen.
Auch in Brüssel klingeln die Alarmglocken: Der Außenbeauftragte der EU Josep Borell brachte Verständnis für die französische Verärgerung auf und meinte: „Wir müssen selbst für unser Überleben sorgen, so wie es andere auch tun.“ Sowohl das U-Bootgeschäft als auch der überhastete Abzug aus Afghanistan sind Wasser auf die Mühlen des französischen Präsidenten, Emmanuel Macron, der schon seit langem strategische Autonomie für Europa fordert.
Die Europäische Union präsentierte am 16. September – quasi gleichzeitig mit dem Affront gegen Frankreich und die EU – ihre Indo-Pacific Strategy, ohne vorher über AUKUS informiert worden zu sein. Die EU-Strategie ist einerseits ein Signal an die Länder des Pazifikraumes, dass die EU vor allem ihre ökonomischen Interessen in dieser Region ernst nehme. Andererseits ist sie ein Zeichen an China und die USA, dass man zwar nicht den harten Anti-China-Kurs der USA verfolge, aber auch keine Äquidistanz praktizieren möchte. Die transatlantischen Beziehungen sind auch weiterhin Priorität.
Weder das bisherige Niveau der Ressourcen noch das Zwei-Prozentziel der NATO ist ausreichend, um strategische Autonomie der EU gegenüber den USA, Russland und China zu erreichen.
Wie sollen sich die EU und ihre Mitgliedsländer nach den Alleingängen der USA, nach der eindeutigen Missachtung der europäischen Meinung und Interessen in Washington verhalten? Drei Optionen bieten sich an. Zum einen die französische Position. Europa sollte militärisch und sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen. Unabhängig von den NATO-Forderungen, die Verteidigungshaushalte auf mindesten 2 Prozent des Bruttosozialproduktes zu erhöhen, benötigt dies erhebliche finanzielle Mittel. Mit Sicherheit ist weder das bisherige Niveau der Ressourcen noch das Zwei-Prozentziel der NATO ausreichend, um tatsächlich strategische Autonomie in Europa gegenüber den USA, Russland und China zu erreichen. Und sind die europäischen Regierungen überhaupt bereit, die Verteidigungshaushalte drastisch zu erhöhen? Das lässt sich bezweifeln. Auch darüber hinaus wären erhebliche politische Hürden zu überwinden. Längst nicht alle EU-Mitglieder – vor allem die osteuropäischen Länder – sind von der strategischen Autonomie Europas überzeugt. Sie sehen ihre Sicherheit auch weiterhin vor allem durch die NATO, mit den USA in der pole position, garantiert.
Die zweite Option ist ein „Weiter so wie bisher“, eine deutlich abgespeckte französische Variante. Seit Jahrzehnten wird die Notwendigkeit einer Europäisierung der Sicherheit mit einer europäischen Armee proklamiert. Bislang arbeitet man sich aber nur in Trippelschritten bei einzelnen Rüstungsprojekten vor. Es reicht auch nicht aus, wie Borell nach dem Afghanistandebakel forderte, eine schnelle Eingreiftruppe der EU zu formieren. Die gibt es mit den sogenannten „Battle Groups“ längst. Sie wurde bislang aber nie eingesetzt, weil dazu der politische Konsens in der EU fehlt. Vermutlich bleibt es bei den bisherigen langatmigen Kompromissen: Einem mühsamen Weg einer forcierten Militärpolitik mit Schritten vor- und rückwärts, trotz französischen Drängens und entsprechender Ambitionen der EU-Kommission.
Sinnvoller wäre es, wenn sich die EU aus dem militärisch dominierten geopolitischen Wettkampf mit „hard power“ verabschiedete.
Die dritte Option wäre eine Rückbesinnung auf die EU als Friedensprojekt. 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis, da sie in Europa ein wichtiger Faktor für die Erhaltung des Friedens war. Die EU wollte ein nachahmenswertes Beispiel für Konfliktregionen in der Welt sein. Dieser Impetus ist heute nicht mehr zu spüren. Vielmehr versucht die EU, bisher vergeblich, bei der Renaissance der Geopolitik, vor allem im Konkurrenzkampf der USA mit China, irgendwie mitzuhalten. Was ist der Sinn der Entsendung einer deutschen Fregatte in den indo-pazifischen Raum, wie gerade geschehen? Als Machtdemonstration gegenüber China ist dieses Flaggezeigen völlig ungeeignet. Als Zeichen der Freundschaft und Kooperationsbereitschaft wird es von der chinesischen Regierung mit Sicherheit nicht verstanden. Sinnvoller wäre es, wenn sich die EU aus dem militärisch dominierten geopolitischen Wettkampf mit „hard power“ verabschiedete. Stattdessen sollte sie auf ihren zivilen Charakter, auf „soft power“, bauen. Mit einer klar auf friedliche Konfliktaustragung orientierten Politik könnte die EU eine Alternative zu den an den Kalten Krieg erinnernden Aufrüstungsprogrammen sein.
Herbert Wulf ist Senior Fellow am Bonn International Center for Conversion und Senior Researcher am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg/Essen. Von 1994 bis 2001 diente er als Direktor des BICC.
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