Helmut Kohl – Glücksfall für Deutschland
Von Wolfgang Bergsdorf
Vor ziemlich genau fünf Jahren, am 16. Juni 2017, starb Helmut Kohl – einer der bedeutendsten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er verfügte über viele erstaunliche Fähigkeiten, die zu Lebzeiten von manchen gern verdrängt wurden.

Für mich war die Kanzlerschaft Helmut Kohl (1982 1998) ein Glücksfall für Deutschland und Europa. Dieser Bundeskanzler hat nie ein deutsches Europa angestrebt, sondern immer ein europäisches Deutschland. Er war ein deutscher Patriot, kein Nationalist. Er wusste die deutsche Einheit davon abhängig, dass die Europäer – die alle unter der deutschen Hybris im Zweiten Weltkrieg gelitten hatten – dem neuen Deutschland als europäischer Zentralmacht Vertrauen entgegen brachten. Und bestimmte das Leben und die Taten des Mannes aus dem westdeutschen Grenzland Pfalz.
Politisches Handeln und christlicher Glaube
Helmut Kohl hat den Versuch gemacht, sein politisches Handeln aus seinem christlichen Glauben zu legitimieren und seiner so verstandenen Weltverantwortung gerecht zu werden. Als ebenso überzeugter wie kritischer und praktizierender Katholik hat er gewusst, dass ohne den Segen Gottes nichts gelingen kann. Auch seinen Beitrag zur Überwindung der Spaltung Deutschlands und des Kontinentes hat er als Gnade Gottes begriffen. Die deutsche Einheit gelang, weil Kohl es verstand, sie mit den Prozessen der europäischen Einigung kunstvoll zu verweben.Dafür erfand er die Formel: deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Er war zeit seines Lebens ein ehrlicher Makler der europäischen Idee, der nie die kleineren und ökonomisch schwächeren Länder dominieren wollte.

Vor allem aber hat er es verstanden, seine politischen Gesprächspartner zu Freunden zu gewinnen, denn seine Neugier auf Menschen war grenzenlos. So hat er auf der europäischen und internationalen Bühne jenes Vertrauenskapital angehäuft, das dann 1989/90 die außen- und innenpolitischen Modalitäten der deutschen Vereinigung ermöglichte. Besonders geschätzt habe ich Kohls Fähigkeit, unterschiedliche Interessen, Positionen und Temperamente zu integrieren. Als Bundeskanzler war er ein Meister der Zusammenfassung und Strukturierung von Ergebnissen, wobei er stets bemüht war, den Zeitpunkt der Entscheidung zu bestimmen. Über das Timing als Erfolgsvoraussetzung wird in der Politik viel geredet und in der Politikwissenschaft viel zu wenig geforscht.
Ein lehrbuchfähiges Beispiel?
Es ist zu vermuten, dass nicht nur die Souveränität über die politische Agenda, sondern vor allem jene über den Zeitpunkt der Entscheidung ein wesentliches Element der politischen Führung ist, für die die Kanzlerschaft Kohls ein lehrbuchfähiges Beispiel ist. Diese bestand nicht nur aus Technik – sie hatte auch eine intellektuelle und emotionale Substanz, die über den Erwerb von Macht und deren Sicherung hinausging. Kohl hatte eine Vision, wie Deutschland in eine gesicherte Zukunft zu führen sei. Er hat bis 1989 alles vermieden, was als Hemmnis für eine künftige Wiedervereinigung seines Landes hätte wirken können, und tat davor und danach alle, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zu stärken.

Ich erinnere mich besonders gerne an die sogenannte Privatreise des Bundeskanzlers in die DDR. Sie fand Ende Mai 1988 statt. Helmut Kohl, seine Frau Hannelore, sein Sohn Peter, Regierungssprecher Friedhelm Ost und ich besuchten unangemeldet Gotha, Erfurt, Weimar, Leipzig und Dresden. Auf dieser Reise erlebten wir einmal mehr einen Bundeskanzler, der mühelos Kontakt mit allen Menschen aufnehmen konnte. Sie spürten seine Neugierde und sein Engagement für die Wiedervereinigung. In diesen drei Tagen erhielten wir mehrere Hundert Ausreisewünsche in die Hände gedrückt. Ob beim Spaziergang über die Straßen, ob in den Kirchen, in der Oper oder im Fußballstadion, überall konnten die Bürger kaum glauben, einen Bundeskanzler zu erleben, der sich ein eigenes Bild von der Situation in der DDR machen wollte. Als ich nach 1990 einen Bericht der natürlich auch bei dieser Reise omnipräsenten Stasi in die Hand bekam, musste ich lachen. Denn die Berichterstatter versicherten ihrer Führung in Ostberlin, dass niemand den Besucher aus Bonn erkannt habe.
Der Zehn-Punkte-Plan
Als sich dann eineinhalb Jahre später die historische Chance für die Wiedervereinigung zeigte, hat Helmut Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan beherzt die Initiative ergriffen und den bei den Massendemonstrationen in der DDR erkennbaren Willen des Volkes zur Einheit Deutschlands innen- und außenpolitisch umgesetzt. Gleichzeitig trieb er den europäischen Einigungsprozess kraftvoll nach vorn und machte ihn durch die Konzeption einer gemeinsamen Währung irreversibel.

Von dem großen liberalen Politikwissenschaftler Max Weber haben wir gelernt: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß, Kampfbereitschaft, Darstellungskraft und Geschichtsbewusstsein bilden eine unauflösliche Einheit politischer Führungsqualitäten. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich vom Pyrrhus-Prinzip der Politik nicht entmutigen zu lassen. Damit ist jenes eigentümliche Gesetz der Politik gemeint, das seine augenscheinlichen Erfolge im öffentlichen Bewusstsein in so seltsamer Weise selbst klein macht. Als Beispiel mag die Kohl´sche Formulierung von den „blühenden Landschaften“ dienen.
Der Kanzler hat seinerzeit nicht von der blühenden Landschaft im Singular geredet, die bald in den neuen Bundesländern entstehen würde, sondern er hat den Plural gewählt, um seine Vision zu kennzeichnen, nach der aus einer Vielzahl von lokalen Neuanfängen irgendwann größere blühende Regionen entstehen. Wer heute die neuen Länder mit offenen Augen und ohne parteipolitische Voreingenommenheit bereist, kann diese blühenden Landschaften überall erkennen.
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jahrgang 1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinett“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt. Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.