Hilfe ja, EU-Vorzug nein!
Von Gisbert Kuhn

Nun war er also doch in die Ukraine gefahren. Olaf Scholz, unser Bundeskanzler. Nicht für einen Soloauftritt, sondern in illustrer Begleitung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Premier Mario Draghi und (wegen der EU-Ost/West-Ausgewogenheit) Rumäniens Staatschef Klaus Johannis. Eigentlich hatte der wegen seiner Zögerlichkeit im In- und Ausland in wachsende Kritik geratene Scholz ja nicht „wegen ein paar Fototermine“ in das auf Kommando Wladimir Putins von Russland überfallene Land reisen wollen. Deswegen erhebt sich jetzt natürlich umso mehr die Frage, was der Berliner Kanzler – über den selbstverständlichen, symbolischen Akt der Solidaritätsbekundung hinaus – an politischer Hardware im Gepäck mit sich führte.
Was die Ukraine vom Westen wünscht (nein, immer drängender fordert) sind, im Wesentlichen, zwei Dinge: 1. Möglichst schnell und möglichst viele schwere Waffen plus dazu gehörender Munition sowie 2. die Perspektive einer raschen Aufnahme in die Europäische Union. Gemessen an diesen Erwartungen hören sich die Äußerungen des Kanzlers und seiner Kollegen dazu in den Ohren der Ukrainer gewiss nicht gerade berauschend an. Wie sollten sie denn auch? Sicher – der eine Panzer oder die andere Haubitze, wahrscheinlich auch dieses Flugabwehrsystem oder jene Lenkrakete könnten künftig vielleicht hurtiger die deutschen, italienischen bzw. französischen Depots in Richtung Osten verlassen. Insgesamt gesehen aber lässt der Ausrüstungs-Zustand der seit 30 Jahren kaputtgesparten und damit heruntergewirtschafteten Bundeswehr die Lieferung derartigen Kriegsgeräts in größeren Mengen gar nicht zu, wollten sich die deutschen Streitkräfte nicht sogar auch noch von ihren niedrigsten Verpflichtungen gegenüber der NATO und somit der gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit verabschieden.
Trotzdem werden die Eindrücke, die sich den Repräsentanten der wichtigsten EU- und NATO-Länder in der Kriegsregion eingebrannt haben, nicht ohne Wirkung auf ihr künftiges Handeln bleiben. Die schrecklichen Bilder von sinnloser Zerstörung reiner Wohngebiete, die Schilderungen von Folter, Vergewaltigung und nahezu jeglicher anderen Art niedrigsten menschlichen Tuns prägen sich vor Ort ganz anders ein als in fernab an den Kabinettstischen in Berlin, Paris oder Rom geführte Theorie-Diskussionen. Das heißt, die bislang (nicht nur bei den Deutschen) feststellbare Diskrepanz zwischen (grundsätzlicher) Hilfszusage und (tatsächlicher) Lieferung bestimmter Waffensysteme wird sich vermutlich verringern. So wenigstens die Hoffnung, weil die überfallene Ukraine den ihr aufgezwungenen Krieg ja schließlich „nicht verlieren darf“ (Originalton Olaf Scholz). Wobei „nicht verlieren“ natürlich nicht gleichbedeutend ist mit „gewinnen“.
Und was ist mit einem von Selensky und Kiew betriebenen raschen Beitritt zur EU? Klar, für sie wäre die Aufnahme in die westliche Werte- sowie (nicht vergessen!) Wirtschafts- und Finanzorganisation fraglos ein wichtiger Rettungsanker, nachdem sich die Hoffnung auf eine NATO-Mitgliedschaft wohl endgültig zerschlagen hat. Auch bei dieser Frage, allerdings, gingen Scholz und seine Kollegen bei genauem Hinhören über grundsätzliche Sympathiebekundungen nicht hinaus. Aus guten Gründen. Vor allem Macron und Draghi hatten schon seit längerem dafür gesorgt, dass die Kiewer Erwartungsampel hinsichtlich einer möglichen „Sonderbehandlung“ des geschundenen Landes nicht auf grün springt. Im Klartext – dass eine schnelle Aufnahme unter Umgehung praktisch sämtlicher, überprüfbaren Reformprozesse (Rechtsstaatlichkeit, Anti-Diskriminierung, wirksame Korruptionsbekämpfung, Meinungsfreiheit usw.) nicht infrage kommen werde.
Das war eigentlich auch von Beginn an die Haltung der Berliner Ampel-Koalition. In Sonderheit die von Außenministerin Annalena Baerbock, während sich Scholz auch hier jeglicher Eindeutigkeit enthielt. Immerhin freundete er sich inzwischen mit der von Macron erfundenen Formulierung an, der Ukraine den Status eines „Beitrittskandidaten“ zuzuerkennen. Ein solcher Status ist im nun wirklich außerordentlich umfangreichen Regelwerk der Gemeinschaft zwar gar nicht vorgesehen. Aber was soll´s – jetzt weiß jeder (auch in Moskau), dass Kiew auf der westlichen Liste steht. Gleichzeitig aber ist (zumindest jedem Kundigen) klar: Damit ist zeitlich überhaupt nichts festgelegt. Nicht allein das Beispiel Türkei zeigt schließlich, wie lange sich der Beitrittsprozess hinziehen kann, wenn von den Bewerbern entweder die äußeren Bedingungen nicht erfüllt werden, oder auch nur eines der Mitgliedländer seine Zustimmung verweigert.
Zwar kann man im aktuellen Fall den der Ukraine von Putin aufgezwungenen Krieg und den Beitrittswunsch Kiews zur EU nicht säuberlich voneinander trennen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass man deswegen das gesamte Regelwerk außer Kraft setzen sollte – ja, sogar außer Kraft setzen dürfte. Im Grunde lässt sich das Dilemma auf einen kurzen Nenner bringen: In ihrer gegenwärtigen Verfassung ist das Kriegsland Ukraine gar nicht beitrittsfähig und die EU genauso wenig breitrittsbereit. Gewiss, Wolodymyr Selenski hatte vor dem russischen Überfall bereits einiges in die Wege geleitet, um die im Lande grassierenden Missstände wie Korruption und Macht der milliardenschweren Oligarchen an der Spitze in den Griff zu bekommen. Doch die Erfolge hielten sich in Grenzen. Erst der Krieg und der drohende Verlust von Besitz, Freiheit, Land und Leben deutet darauf hin, dass sich dort eine wirkliche Nation zu bilden beginnt.
Aber das ist erst der Anfang des Weges zur Beitrittswürdigkeit, nicht schon die Reife. Und die Europäische Union? Eigentlich ist es richtig erstaunlich, dass die Gemeinschaft noch immer eine solche Attraktivität auf andere Länder und Völker ausstrahlt. Aus dem einstigen Zweckpakt von 6 Staaten, die entschlossen waren, endlich die Lehren aus den jahrhundertelangen Kriegswirren auf dem „alten Kontinent“ zu ziehen, ist mit inzwischen 27 Mitgliedern ein kaum mehr regierbarer Koloss geworden. Ein Verwaltungsmoloch praktisch ohne Gemeinschafts-Wertgefühl und weitgehend (wenn nicht sogar mehrheitlich) vom Interesse und der Entschlossenheit von „Partnern“ geprägt, möglichst viel Geld aus den Brüsseler Kassen zu ziehen und sich beim Verteilen nicht in die Karten blicken zu lassen.
Da ist nicht mehr viel übrig vom ursprünglichen Geist der Grenzüberwindung, von Zusammenarbeit, selbstverständlicher Solidarität. Sicher, dass aus irgendeinem Grund noch immer ein Krieg ausbrechen könnte zwischen – sagen wir – Deutschland und Polen ist nur sehr schwer vorstellbar. Aber dass Nationalismus und Geschichte noch immer eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Politik spielen, haben auf fatale Weise vergangene Wahlkämpfe in unserem östlichen Nachbarland gezeigt. Aber trotzdem – der Krieg um die Ukraine hat in der EU wieder die Kräfte des Zusammenhalts gestärkt. Auch in Polen, das immerhin bisher mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Trotzdem ist Warschau ein schwieriger Partner geworden. Ein Land, in dem die Wähler immer wieder eine Partei und deren Repräsentanten wählen, die Pressefreiheit einschränken oder die Unabhängigkeit der Justiz abschaffen wollen! Also Eckpfeiler einer demokratischen Ordnung, wie sie selbstverständlich sein sollten. Sie bilden den „Besitzstand der EU“, also die Gesamtheit des gemeinschaftlich beschlossenen Rechts, aus der sich kein Partner nur das herauspicken kann, was ihm am besten gefällt oder (vielleicht auch nur scheinbar) nutzt.
Ungarn, ein anderer Fall. Während der Beitrittsverhandlungen um die Jahrtausendwende, die schließlich 2004 mit der Aufnahme von gleich 10 (!) ost- und südosteuropäischen Ländern plus Zypern endete, waren die damaligen Ungarn mit ihrer Reformpolitik stets weit vor allen anderen. Mit seiner heutigen Politik der „illiberalen Demokratie“ hat Ministerpräsident Viktor Orban indessen von den alten Idealen freilich kaum noch etwas übriggelassen. Schlimmer noch – Orban liebäugelt ganz offen mit Wladimir Putin, lehnt die Teilnahme an den von EU und NATO gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen ab, verscherbelt die Hälfte der ungarischen Staatsbahnen an Chinas „Neue Seidenstraße“ und ist, ohne auch nur das geringste Hehl daraus zu machen, praktisch ausschließlich noch an möglichen, aus Brüssel zu holenden Milliarden interessiert.
Diese unschöne Reihe ließe sich leicht noch fortsetzen. Der Inselstaat Zypern, zum Beispiel, dient – ähnlich wie es die berühmten westtschechischen Kurbäder tun – russischen Milliardären ganz offen als Zentrum ihrer Geldwäscherei. Und auch Griechenland und Italien haben bedenkenlos ihre Häfen Piräus und Genua teilweise oder gar vollständig an die Chinesen veräußert, was deren Streben zur Weltmacht logischerweise deutlich vereinfacht. Nein, diese Europäische Union in ihrem jetzigen Zustand ist kaum in der Lage, ihre eigenen Risse zu kitten und bereits entstandene Schäden zu reparieren. Geschweige denn, ohne vorangehende tiefgreifende Reformen, weitere Mitglieder aufzunehmen. Schon gar keine, die selbst von inneren politischen, wirtschaftlichen, nationalistischen und gesellschaftlichen Problemen gebeutelt werden. Es sei denn, die Gemeinschaft hätte ihre Ideale und den Glauben an die eigene Zukunft aufgegeben.
Und es stehen ja, teilweise seit Jahren schon, entsprechende Beitrittskandidaten bereit, von denen kein einziger verspräche, zur wirklichen Stärkung der EU beizutragen. Angefangen bei der immer mehr auf eine Diktatur zusteuernde Türkei unter Staatspräsident Erdogan. Dazu die Balkan-Republiken Serbien, Kosovo, Nordmazedonien – Länder, bei denen sich die Gräuel des Vielvölker-Kriegs vor mehr als zwei Jahrzehnten noch immer tief im Bewusstsein ihrer jeweilen Bürger eingegraben haben und die sich lieber heute als morgen erneut an die Gurgel gingen. Hinzu kommt die kulturell und über die gemeinsame orthodoxe Kirche auch religiös verankerte, historische Bindung der Serben an Russland. Und die sollen gemeinsam und gestalterisch mit Ukrainern an einem Tisch in Brüssel sitzen und Sorge dafür tragen, dass die Europäische Union mit ihren schon heute mehr als 400 Millionen Menschen einen unverbrüchlichen, machtvollen Gegenblock gegen die Giganten USA, China und Russland bildet?
Fazit: Der Wunsch der ukrainischen Regierung (und wahrscheinlich auch der Mehrheit ihrer Bürger) nach einer Zusage, schnellstmöglich der EU beitreten zu dürfen, ist ebenso verständlich wie nicht zu erfüllen. Hilfe für das und brutal überfallene, zerschossene Land und sein geschundenes Volk ja! So rasch und so viel der Westen leisten kann, ohne sich selbst in Existenznöte zu bringen. Aber keine Vorzugsbehandlung beim Prozedere um die Aufnahme weiterer Mitglieder. Eine solche wäre erstens den schon lange vor dem Tor zur EU wartenden Aspiranten nicht zumutbar. Und zweitens käme es praktisch einem Schritt der EU zum Selbstmord gleich. Jedenfalls solange diese ihre eigenen, gravierenden Schwächen nicht durch radikale Reformen überwindet. Ein Weiter so, ein Durchwursteln, ist nicht mehr möglich. Dazu gehörte natürlich zuvorderst die Abschaffung der Einstimmigkeit auch und gerade bei existentiellen Fragen.
Da klingt logisch und liest sich leicht. Doch könnte so etwas nur dann gelingen, wenn in der Gemeinschaft wirklich auch ein gemeinschaftlicher Geist die Oberhand gewönne, nicht mehr der eigene Vorteil in den jeweiligen Blickwinkeln stünde und die EU überall wieder als das gesehen würde, was den Gründern einst vorschwebte – ein geeintes, grenzenloses und damit machtvolles demokratisches Europa, das als solches im Weltkonzern der Großen mitspielen könnte.
Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.
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