Von Gisbert Kuhn

Gisbert Kuhn

Es herrscht Krieg in Europa. Was lange Zeit, nach jahrhundertelangen Gemetzeln der Völker untereinander, als ausgeschlossen galt. Man hatte ja allgemein anerkannte Regeln geschaffen, Grenzen entweder abgeschafft oder als unverletzlich anerkannt. Die Friedensdividende konnte einkassiert werden.  Der von Wladimir Putin befohlene russische Überfall auf die Ukraine hat mit einem Male alles über den Haufen geworfen. Seit über einem Jahr sterben wieder abertausende Menschen auf Schlachtfeldern, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg blutgetränkt sind. Es wird geschossen, was die Arsenale hergeben und dabei werden (vor allem von russischer Seite) vor allem Zivilisten, Wohnungen, Krankenhäuser und wichtige Versorgungseinrichtungen aufs Korn genommen. Die Bilder sind jeden Tag erschütternd.

Es tobt allerdings auch noch ein anderer Krieg. Ein unsichtbarer, körperlich nicht spürbarer, aber nicht weniger erbittert und rücksichtslos geführter. Seine Bezeichnung: Cyber-Krieg. Dieser ist keineswegs auf Russland, die Ukraine und deren westliche Unterstützer begrenzt. Besonders die rasant aufstrebende neue Weltmacht China mischt kräftig dabei mit. Aber die Aktivitäten der digitalen Kombattanten hat seit dem vergangenen Frühjahr explosionsartig zugenommen. Die – im Größenvergleich zu Russland – kleine Ukraine hätte ihren bisherigen Abwehrkampf gegen den Aggressor trotz der amerikanischen und europäischen Waffenhilfe nie bestehen können ohne die von den USA gelieferten präzisen Informationen über die vermutlichen Absichten und die militärische Situation der Gegenseite.

Und die Kenntnisse der Yankee-Geheimdienste über Interna des Kreml und der russischen Streitkräfte scheinen schon sehr exakt und tiefgreifend zu sein. Deswegen könnten – wenn sie denn stimmten – die jüngst im Netz verbreiteten und angeblich aus dem Pentagon stammenden Dokumente ein Desaster für die geheimen Krieger in Washington darstellen. Und möglicherweise nicht nur für sie, sondern (peinlich genug) auch für uns. Denn auch die Bundesrepublik hängt in kritischen Bereichen leider oft genug am Tropf ihrer Verbündeten. Ein markantes Beispiel dafür war der Fall des hochrangigen BND-Beamten und russischen Spions, der voriges Jahr in Berlin festgenommen wurde. Nicht sein eigener Dienst enttarnte ihn, vielmehr kam der Hinweis „aus dem befreundeten Ausland“.

Wenn Deutschlands Öffentlichkeit und auch Teile von Politik und Wirtschaft den Gefechten an der Cyber-Front überhaupt Aufmerksamkeit zukommen lässt, dann besteht diese zumeist aus fassungslosem Staunen. So nach dem Motto: „Ja gibt’s denn so was?!“  Tatsächlich ist die Bundesrepublik auf dem Gebiet der so genannten Cyber-Sicherheit Entwicklungsland. Wie bei so ziemlich Allem, was mit Digitalisierung zusammenhängt. Gewiss sind in jüngerer Zeit etliche vernünftige Maßnahmen ergriffen worden wie die „Aufrüstung“ des in Bonn ansässigen „Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik“ (BSI) mit dem Kernelement „Nationales Cyber-Abwehrzentrum“. Doch so recht zur Kenntnis genommen werden die Gefahren aus dem scheinbaren Nichts von den Bürgern in der Regel nur dann, wenn wieder einmal ein Hacker-Angriff auf ein Krankenhaus, eine Stadtverwaltung, eine Großbank, einen Wirtschaftskonzern oder auf andere Teile der so genannten „Kritischen Infrastruktur“ stattgefunden hat.

Aber während in Deutschland lange und hitzige Parlamentsdebatten über Frage geführt werden, ob überhaupt und wenn ja wann die Polizei zur Verbrechensbekämpfung Telefone abgehört oder Kontrollen im Funk durchgeführt werden dürfen, geht es den Protagonisten dieses neuen Technologiezweiges längst um die Vorherrschaft.  Der Ukraine-Krieg ist dabei sozusagen ein bevorzugtes Versuchslabor. Und zwar auf breiter Fläche. Dies gilt für die Erprobung moderner Fernlenkwaffen über die mediale Beeinflussung der gegnerischen Bevölkerungen bis hin zu gekonnten wie nicht selten, zum Glück, auch plumpen Mitteln der Propaganda.

Nach Aussage von Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang haben Spionage, Hackerangriffe, Propaganda und andere Arten der Einzel- wie auch Massen-Beeinflussung längst wieder das „Niveau wie im Kalten Krieg“ erreicht. Allerdings hat sich die Zahl der Mitspieler vergrößert: China. Russland setzt riesige Mittel ein, um die Digitalisierung und Informations-Technologie (IT) militärisch nutzbar zu machen. Die USA tun das nicht weniger, und in Europa versucht allein die einstige Weltmacht Großbritannien, wenigstens einigermaßen Schritt zu halten. Deutschland spielt allenfalls in der zweiten Liga. Das liegt nicht nur aber auch an unserem Verständnis von Demokratie und – nicht zuletzt – individueller Freiheit.

Indes: Welch ein Gegensatz besteht zwischen dem (im Grunde natürlich positiv zu sehenden) Bemühen der Politik, die Bürger vor dem allzu gierigen Zugriffen von Sicherheitsbehörden, Wirtschaftsunternehmen, online-shops und allem Möglichen sonst zu schützen, wenn diese ihre (mitunter sogar intimsten) Daten bedenkenlos selbst preisgeben? Einst waren Hunderttausende auf den Bonner Hofgarten gepilgert, um gegen „den totalen Überwachungsstaat“ und den „Gläsernen Menschen“ zu protestieren. Dabei ging es „dem Staat“ im Grund nur herauszufinden, mit welcher Art Heizungen damals die Wohnungen im Land ausgestattet waren.

Das war vor rund 50 Jahren. Vor einem halben Jahrhundert, also. Heute scheut kaum noch einer davor zurück, Versand-Giganten wie „amazon“ und dergleichen praktisch jede Frage nach privaten Vorlieben zu beantworten. Und die Gier nach Daten ist grenzenlos. Genauso wie, umgekehrt, die daraus resultierende Beeinflussung. Doch das wirkt, im Grunde, schon wieder altbacken beim Blick auf die rasant fortschreitende (tatsächlich auch faszinierende) Entwicklung der „Künstlichen Intelligenz (KI). Daraus kann, ohne Frage, viel Gutes für die Menschheit entstehen. Nicht nur für die Schüler, die bereits jetzt hoffen, von KI die Auslegung von Goethes „Faust“ geschrieben zu bekommen. Sondern für die Medizin und die Forschung jeglicher Art.

Abert sie kann – wie alles Neue – auch auf die schlimmste Weise zerstörerisch wirken. In der gesamten Geschichte der Menschheit wurden Erfindungen, Entwicklungen, Kenntnisse zu allererst militärisch begründet und genutzt. Also um zu erobern, zu zerstören, zu töten. Zivile Nutzung war praktisch stets nur ein Abfallprodukt. Warum sollte es jetzt anders kommen? In der totalitär regierten und auf totale Überwachung bedachten Volksrepublik China ist fototechnische Gesichtserfassung und KI-gesteuerte automatische Identifizierung nahezu jedes Individuums jetzt schon an der Tagesordnung. Auf dem ukrainischen Schlachtfeld wird der unsichtbare digitale und damit unsichtbare „Fortschritt“ im Feldversuch erprobt.

Und hier in Deutschland? Hier zehren wir noch immer vor der Friedensdividende und lassen unsere Volksvertreter erbittert darüber streiten, welche Mittel die Polizei bei der Bekämpfung etwa der Clan-Kriminalität einsetzen darf.

Lieb Vaterland magst ruhig sein.

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für zahlreiche Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

   

 

- ANZEIGE -