Auflösungserscheinungen

In Bosnien-Herzegowina droht das empfindliche Gleichgewicht zu kippen. Die Angst vor dem Zusammenbruch des Staates und einem Krieg greift um sich.

Wie schon so oft begann auch dieses Jahr damit, dass die Balkan-Region ihr Image als explosives Pulverfass bestätigte. In Bosnien und Herzegowina (BiH) wurde am Sonntag eifrig gezündelt. Der 9. Januar markierte den dreißigsten Jahrestag der Ausrufung der Republika Srpska 1992 durch die bosnischen Serben in BiH. Das bosnische Verfassungsgericht hatte die Begehung des Feiertags zuvor untersagt, da er andere Ethnien wie die bosnischen Muslime oder die kroatischen Katholiken ausgrenze. Dennoch wurde in der Stadt Banja Luka eine Polizeiparade mit schwerem Geschütz abgehalten.

Zu BiHs Status als Pulverfass passen auch die jüngsten Drohungen von Milorad Dodik, dem serbischen Mitglied im bosnischen Staatspräsidium. Sie könnten das empfindliche Nachkriegsgleichgewicht in der Region erschüttern. Dies trägt gemeinsam mit anderen Faktoren dazu bei, dass BiH nach drei Jahren Stillstand nun am Rande des völligen politischen Zusammenbruchs steht. Schlimmstenfalls könnte dies zum Zerfall des Landes führen.

Bosnien-Herzegowina steht nach drei Jahren Stillstand am Rande des völligen politischen Zusammenbruchs. Schlimmstenfalls könnte dies zum Zerfall des Landes führen.

Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort hat viel mit der Regierungselite des Landes zu tun. Für sie ist es politisch am einträglichsten, über Krieg zu sprechen und Krisen zu produzieren, um von der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung abzulenken. Der beste „Wahlkampf“, den diese Eliten führen können, besteht darin, Konflikte anzufeuern und zu Intoleranz aufzurufen. Ihre Siege zählen nur halb, da die Hälfte der Bürgerschaft nicht wählen geht, weil sie zwischen den politischen Angeboten keine Unterschiede erkennen kann. Während verantwortungslose Politiker immer autokratischer werden, fühlen sich die Durchschnittswähler völlig machtlos.

In sämtlichen Balkanländern werden die Institutionen nicht von großen Gruppen entworfen, sondern von Einzelpersonen, was das Syndrom des sogenannten „Bigmanism“ widerspiegelt. In den Politikwissenschaften bezieht sich dieser Begriff auf die korrupte, autokratische und häufig totalitäre Regierung des Staates durch eine einzige Person. Allgemein wird er mit neopatrimonialen Staaten in Verbindung gebracht, in denen es zwar einen Rahmen formaler Rechtsstaatlichkeit und Verwaltung gibt, der Staat aber in informellen Begünstigungsnetzwerken gefangen ist. Vor den eigentlichen staatlichen Funktionen steht an erster Stelle die Verteilung der Beute, was die Fähigkeit der Beamten erheblich einschränkt, Politik für das Gemeinwohl zu machen.

Für die Regierungselite ist es politisch am einträglichsten, über Krieg zu sprechen und Krisen zu produzieren, um von der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung abzulenken.

In BiH folgt die Regierung dem Beispiel „demokratischer“ Länder wie Polen, Ungarn oder der Türkei, indem sie die Unabhängigkeit der Parlamentsmitglieder einschränkt sowie die Macht an hochrangige Institutionen und in die Hände der Parteiführer verlagert: an Bakir Izetbegović, den Vorsitzenden der Partei Demokratischer Aktion (Bosnierpartei), Milorad Dodik, den Chef des Bündnisses Unabhängiger Sozialdemokraten (Serbenpartei), und Dragan Čović, den Vorsitzenden der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft.

Zu den Taktiken dieser Parteichefs gehören der Krieg gegen unbequeme Medien, die Kritikern Raum geben; stetige Bemühungen zur Kontrolle der Zivilgesellschaft; die Belagerung staatlicher Institutionen durch loyale Anhänger; und die „Exkommunizierung“ kritischer Stimmen. Ihr Ziel ist die unumstrittene Akzeptanz der Staatsführung und ihrer Anhänger, die häufig aus religiösen, ethnischen, kulturellen oder sozioökonomischen Gründen die Legitimität anderer in Frage stellen. Ihre Rhetorik dreht sich um Phrasen wie „wir sind erfolgreich, alle beneiden uns, und die Großmächte möchten unseren Wohlstand und unser Wissen“ – die Leitprinzipien des politischen Repertoires fast aller Balkanpolitiker.

In sämtlichen Balkanländern werden die Institutionen nicht von großen Gruppen entworfen, sondern von Einzelpersonen, was das Syndrom des sogenannten „Bigmanism“ widerspiegelt.

Präsidentenpalast in Sarajevo

Dementsprechend lassen sich unrealistische wirtschaftliche Versprechen und natürlich ihre Nichterfüllung am besten „verkaufen“, wenn sie von einem starken ideologischen Narrativ begleitet sind. In Bosnien und Herzegowina dient dazu das ursprüngliche Dayton-Abkommen: Mit ihm wurde Bosnien zum Einzelstaat aus zwei Teilen, der Bosnisch-Kroatischen Föderation und der Bosnisch-Serbischen Republik – mit Sarajevo als ungeteilter Hauptstadt. Durch das Abkommen entstand ein politisches System, das zu den komplexesten der Welt gehört.

Seit dieser Zeit fanden – meist auf Initiative und Druck von außen – einige große Reformen statt, mit denen auf föderaler Ebene neue Institutionen geschaffen wurden, um den Staat funktionaler zu gestalten. Die einzelnen Fraktionen haben zum Abkommen ein unterschiedliches Verhältnis: Der bosnische Serbenführer Milorad Dodik setzt sich für das – wie er es nennt – ursprüngliche Dayton-Abkommen ein, während Dragan Čović, Präsident der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft, auf einer Änderung des Wahlrechts besteht. Die Bosnier wiederum übernehmen die ständige Opferrolle.

Dodik wirbt unter dem Schleier des „ursprünglichen“ Dayton-Abkommens für die Einführung paralleler Institutionen. Letztlich will er damit die Nachkriegsinstitutionen in Bosnien wieder abbauen und das Land zurück ins Jahr 1995 führen. Čović als Repräsentant der Kroaten versucht hingegen, vor den nächsten Parlamentswahlen im Oktober in BiH das Wahlrecht zu ändern. Er sagt, er wolle die „legitime Repräsentation“ der vertretenen Völker gewährleisten, und behauptet unter anderem, das kroatische Mitglied im Staatspräsidium Zeljko Komsic sei mit bosnischen Stimmen gewählt worden und vertrete deshalb die Kroaten nicht. Die kroatischen Vertreter behaupten, die Bosnier könnten die Kroaten schon aufgrund ihrer schieren Anzahl von Wählern überstimmen und damit letztlich das kroatische Präsidentschaftsmitglied festlegen.

Unrealistische wirtschaftliche Versprechen und ihre Nichterfüllung lassen sich am besten „verkaufen“, wenn sie von einem starken ideologischen Narrativ begleitet sind.

Bosniens Wahlsystem muss reformiert werden, um mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Dies betrifft insbesondere die Regel, dass alle Bürgerinnen und Bürger berechtigt sein sollten, für das Präsidentschaftsamt zu kandidieren – also nicht nur die Mitglieder der drei verfassungsrechtlich anerkannten Volksgruppen, d.h. Bosnier, Serben und Kroaten.

Der Populismus auf dem Balkan wird von einer stark euroskeptischen Einstellung begleitet, da die Europäische Union als willkommener Gegner dient, der folgenlos beschuldigt werden kann. Gemeinsam mit der Angst vor Einwanderung wird dies von einem – mal offenen, mal subtilen und schweigenden – Rassismus und Antiislamismus begleitet sowie mit Kritik an verschiedenen Minderheiten. Von den politischen Unterstützern auf der internationalen Bühne wird dies rückhaltlos unterstützt – ob dies nun Russland als Mentor der Serben, die Türkei als Mentor der Bosnier oder die Europäische Union ist, die stets auf ihr Mitglied Kroatien aufpasst.

Letztlich versuchen die Eliten des Balkan, ihre Interessen durchzusetzen und an der Macht zu bleiben. Dazu tun sie auf der Weltbühne so, als würden sie sich für Integration und gute Beziehungen zu internationalen Vertretern engagieren, um deren Unterstützung zu bekommen, wenn ihnen das Geld ausgeht. Gleichzeitig wird der internationalen Gemeinschaft für fast alles die Schuld gegeben. Dieses Spiel wird seit Jahrzehnten gespielt. Es hat dazu geführt, dass die nationalen Ressourcen schlecht verwaltet werden, Institutionen geschwächt wurden und eine Kultur der Intoleranz und gegenseitigen Schuldzuweisung entstanden ist.

Der Populismus auf dem Balkan wird von einer stark euroskeptischen Einstellung begleitet, da die Europäische Union als willkommener Gegner dient, der folgenlos beschuldigt werden kann.

Milorad Dodik (li), Šefik Džaferović (mitte) und Željko Komšić, Amtierendes Staatspräsidium (seit 2018)

Obwohl sich internationale Kreise rhetorisch immer noch dazu verpflichten, präventive Diplomatie zu betreiben und Handlungsbereitschaft zu zeigen, haben die internationalen Organisationen leider kaum dazu beigetragen, auf der regionalen Ebene des Landes ein funktionierendes Konfliktpräventionsprogramm zu schaffen. Dies liegt auch daran, dass die Bereitschaft zu dessen Umsetzung auf nationaler Ebene sehr gering ist.

Drzeit bewegt sich BiH aufgrund des dreijährigen politischen Stillstands immer mehr auf eine Auflösung zu. Nach den Parlamentswahlen von 2018 hat es ein ganzes Jahr gedauert, auf Staatsebene einen Ministerrat zu bilden, während die Teilregierungen der BiH-Föderation technokratisch legitimiert weiterarbeiteten.

Eine den Wahlergebnissen entsprechende Regierung wurde nie eingesetzt. Insbesondere die Kroatische Demokratische Gemeinschaft hat die Regierungsbildung von der Einführung eines neuen Wahlgesetzes abhängig gemacht. Und Dodik – als prominentester Politiker der Republika Srpska und BiH-Präsidentschaftsmitglied – hat immer wieder gedroht, das Parlament der bosnischen Serben werde die meisten der etwa 140 Gesetze, die von ehemaligen Hohen Vertretern erlassen wurden, nicht mehr befolgen. Außerdem werde die Republika Srpska ihre eigene Armee, Grenzpolizei, Steuerbehörde und Gerichtsbarkeit gründen.

Die europäischen Ambitionen und Reformprozesse für Bosnien-Herzegowina wurden gestoppt. Die Angst vor dem Zusammenbruch des Staates und einem Krieg greift um sich.

Dementsprechend wurden die europäischen Ambitionen und Reformprozesse für BiH gestoppt, und die Angst vor dem Zusammenbruch des Staates und einem Krieg greift um sich. Viele Menschen in Bosnien, deren Erinnerungen an den letzten verheerenden Krieg noch frisch sind, sagen, sie würden in keinem weiteren Konflikt mitkämpfen, sondern das Land verlassen.

Die politische Krise in BiH kann nicht einfach durch Sanktionen überwunden werden. Stattdessen muss die internationale Gemeinschaft erneut Interesse zeigen und eine Agenda entwickeln, die den sozialen Zusammenhalt stärkt und zunächst auf kurzfristige Kompromisse, dann aber auf einen ernsthaften langfristigen Reformprozess setzt.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff                                         Titelfoto: Kroatische Soldaten im Dorf Klepci während der Operation “Junidämmerung” im Jahr 1992

 

Dr. Svetlana Cenić ist Unternehmensberaterin, Kolumnistin für die politische Wochenzeitung Dani in Sarajevo und Lehrbeauftragte an der SHL Academy for Young Leaders. Von 2005 bis 2006 diente sie als Finanzministerin der Republika Srpska.

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