Von Michael Stallkamp

Das Berliner Olympiastadion ©Michael Stallkamp

Die Sonne strahlt vom frühlingsblauen Himmel in Berlin. Auf dem großen Parkplatz vor dem Olympiastadion macht sich Picknickatmosphäre breit. Zum Sonntagabendspiel der Berliner Hertha gegen die fast schon abgestiegenen 96er aus Hannover sind viele Besucher frühzeitig mit dem Auto angereist. Campingstühle werden ausgeklappt, Speisen und Getränke herumgereicht. Lange vor Öffnung des Stadions stimmen sich Familien und Freundeskreise jeglicher Altersstufen in kleinen Wagenburgen auf das Spiel ein. Man ist Selbstversorger, die direkt benachbarten Getränkestände werden ignoriert und auf das kulinarische Angebot im Stadion möchte man offensichtlich auch nicht warten. Ich hoffe, dass das nichts Schlechtes für die Berliner Stadionwurst bedeutet.

Aus den nahen U- und S-Bahn-Stationen ergießen sich nun stetig anwachsende Ströme etwas lethargisch wirkender Berliner Fans. Für die Hertha geht es um nicht mehr viel. Sie steckt im Niemandsland der Tabelle fest. 90 Minuten vor Spielbeginn werden endlich die Tore zum riesigen Gelände des historischen Olympiaparks geöffnet. Die Rasenplätze, das im Originalzustand erhaltene olympische Freibad sowie das Olympiastadion von 1936 bilden ein geschichtsträchtiges Ensemble. Die grandiose Arena wirkt wie eine moderne Variante des römischen Kolosseums und flößt Ehrfurcht ein. Ich frage mich, wer wohl schon alles vor mir über die riesigen alten Steinplatten des Geländes gegangen sein mag. Die bedeutungsschwere Vergangenheit dieses Ortes ist für Hertha BSC Fluch und Segen zugleich. Der Fußballplatz im Innern der Wettkampfstätte wird weiträumig von der Laufbahn sowie den Weitsprung-, Hochsprung- und Wurfanlagen eingerahmt. Alle Tribünen haben dadurch einen gehörigen Abstand zum zentralen Spielfeld und lassen die Kicker für den einen oder anderen Zuschauer fast auf Tipp-Kick-Größe schrumpfen. Über dem Marathontor klafft zudem in halber Tribünenhöhe eine riesige Lücke im Oval und gibt den Blick auf den Berliner Abendhimmel frei. Diese Idee des Architekten verstärkt den monumentalen Auftritt des Bauwerks eindrucksvoll. Für die Herthaner bedeutet er allerdings sowohl Verzicht auf viele Zuschauerplätze als auch auf einen inspirierenden Stadionsound.

Zum Erhalt dieses glanzvollen Denkmals ist immer wieder viel öffentliches Geld in Renovierungen und angemessen vorsichtige Modernisierungen geflossen. Das Ergebnis ist architektonisch überzeugend. Überall spüre ich noch den Atem der Geschichte. Damit ist das Berliner Olympiastadion ein beeindruckendes Gegenstück zu den manchmal in erster Linie zweckmäßigen reinen Fußballstadien.

Die Stadionverpflegung gibt es an kleinen Verkaufsfenstern unter den Tribünen. In dieser historischen Anordnung ist kaum Platz für Werbung. Nur kleine Tafeln informieren über das Angebot des Caterers ARAMARK, den ich schon aus anderen Stadien kenne.

Wurst mit Geschichte Die dünne lange Bratwurst in einem auf den ersten Blick unauffälligen Brötchen, natürlich Schrippe genannt, ist sehr stark gebraten. Ich durchbeiße die überaus feste Haut und spüre im Mund eine sehr weiche wabbelige Masse. Diese schmeckt ausschließlich nach Fett, und zwar mehr nach der schmalzigen als nach der speckigen Variante. Kein Gewürz, nicht einmal Salz, lenkt von der unglaublichen Schmerorgie ab. Die Schrippe entpuppt sich als ein absolut passendes Pendant. Die feste Kruste weckt Erwartungen, die dann sogleich von dem völlig geschmacklosen und äußerst pappigen Inneren enttäuscht werden. Für diese desaströse Geschmackserfahrung habe ich 3,50 Euro zu bezahlen, ein ambitionierter Preis für diese Qualität, offensichtlich ist hier ein Hauptstadtzuschlag einberechnet. Ich überwinde mich, an einem anderen Fenster für eine zweite Testwurst anzustehen. Diese ist so stark gebraten, dass sie gerade noch als nicht verbrannt durchgeht. Die Verkäufer scheinen sich der Schwäche ihrer Produkte bewusst zu sein und setzen wohl auf die alles übertünchende Wirkung intensiver Röststoffe. Leider vergeblich. Das zweite Exemplar schmeckt genauso schlecht wie das erste. Ohne große Hoffnung auf Besserung suche ich einen neuen Grill. Das mir hier zunächst angebotene überwiegend verkohlte Teil lehne ich ab. Das nächste, weniger verbrannte Stück, ist ebenso minderwertig wie seine Vorgänger.

Verstohlen beobachte ich andere Wurstesser. Ihre Reaktionen sind spärlich. In der U-Bahn und auf dem Weg zum Stadion habe ich viele Berliner als schlecht gelaunt und nörgelnd erlebt. Dabei immer sehr meinungsfreudig und forsch formulierend. Zur Stadionwurst höre ich nur wenige Anmerkungen. Zwei Freunde frotzeln: „Da hätten wir doch besser Currywurst genommen.“ Ist das des Rätsels Lösung? In der Geburtsstadt der Currywurst, bis vor kurzem mit eigenem Currywurst-Museum, vertraut man vielleicht darauf, dass über alle gebratenen Würste so viel scharfe Sauce gekippt wird, dass der wahre Wurstgeschmack im Dunkeln bleibt. Nun verstehe ich die cleveren Selbstversorger auf dem Parkplatz.

Frustriert nehme ich meinen Tribünenplatz ein. Die Hertha-Fanszene gibt sich größte Mühe, die akustischen Nachteile des Stadions auszugleichen. Sie sind so zahlreich in der Ostkurve versammelt, dass ihnen beeindruckend laute Anfeuerungen gelingen. Die anderen Zuschauer machen dabei kaum mit. Das mag daran liegen, dass heute, am frühen Abend des Ostersonntags, augenscheinlich besonders viele Familien und Touristen anwesend sind. Die regelmäßigen Besucher in meiner Umgebung beschränken ihre Anteilnahme allerdings auch auf intensives und völlig humorloses Meckern. Das Spiel, die Gäste und die Heimmannschaft sind unterschiedslos Ziele ihre hämischen und boshaften Kommentare. Der Mann am Mischpult versucht, die diffuse Klangwirkung der Sportstätte durch hemmungsloses Aufdrehen der Lautstärke zu kompensieren. Das Unterfangen scheitert kläglich und ein kaum zu ertragender Tonbrei ist die Folge. Plötzlich gibt es einen durchdringenden Alarm. Unkundige Besucher wollen bereits das Stadion räumen, stutzen jedoch über den Gleichmut der Herthaner. Der Alarm kündigt nur das Einlaufen der Heimmannschaft zum Aufwärmen an. Viel Lärm um nichts.

Sympathischer sind die intensiven Aufforderungen an das Publikum, sich an der 14. Auflage des sozialen Projektes „Spendet Becher, rettet Leben“zu beteiligen. 2004 erkrankte Benny, ein engagierter Hertha-Fan, an Leukämie. Der Berliner Fanclub „Die Harlekins“ organisierte eine groß angelegte Typisierungskampagne und sammelte zur Finanzierung Becherpfand im Stadion. Fanclubs aus ganz Deutschland und vor allem aus Hannover, dem neuen Wohnort von Benny, beteiligten sich. Trotz aller medizinischen Bemühungen überlebte Benny nicht. Aber die Sammelaktion wird seitdem jährlich in Berlin zu Gunsten sozialer Einrichtungen wiederholt. In diesem Jahr profitiert ein Hannoveraner Verein, der die Vereinsamung trauernde Kinder und Jugendlicher verhindern will. Die Geschichte des Fußballs, die immer auch eine Geschichte der Integration war, wird so überzeugend fortgeschrieben.

Ein völlig gegensätzliches Projekt ist in der Gästekurve mitzuerleben. Hier wird die Berliner Fanaktion mit einem für unbeteiligte Zuschauer lebensgefährlichen Pyrofeuerwerk gekontert. Leider wird die Bühne des Fußballs auch immer wieder zur rücksichtslosen Selbstdarstellung missbraucht. Dafür steht heute die Aktion der Hannoveraner Chaoten.

Das langweilige Spiel endet 0:0. Für die unzumutbare, fast schon skandalöse Stadionwurst kann es nur den letzten Tabellenplatz geben.

Wird fortgesetzt.

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