Warum die Linke ihren Mut zum politischen Wandel wiederentdecken muss.

Philosophen interpretieren die Welt. Ändern müssen sie andere. ©Wikipedia-Die Streikenden-Robert-Koehler

Der Aufstieg des Rechtspopulismus ist heute das wohl drängendste Problem Europas. Viele Beobachter bringen wie ich den Aufstieg des Populismus mit dem Niedergang der Sozialdemokratie oder der linken Mitte in Verbindung. Traditionelle sozialdemokratische Wählerinnen und Wähler geben heute häufig Populisten ihre Stimme. Die Hinwendung der Sozialdemokratie zu einem „menschlichen, freundlichen“ Neoliberalismus öffnete einen politischen Raum, den Populisten mit Sozialstaatschauvinismus füllten. Der nachlassende Wahlerfolg der Sozialdemokratie macht linke Mehrheitsregierungen, ja in vielen europäischen Ländern jegliche stabile Mehrheitsregierung, unmöglich. Das wiederum erschwert die Lösung von Problemen, nährt die Unzufriedenheit mit der Demokratie und verstärkt die Hinwendung zum Populismus. Doch die Problematik ist grundlegender. Eine Sozialdemokratie, wie es sie nach dem Krieg gab, eng verwoben mit der liberalen Demokratie, hält offenbar niemand mehr für möglich.

Die Sozialdemokratie war die idealistischste und optimistischste Ideologie der Moderne. In den Augen liberaler Kräfte drohte mit einer „Pöbelherrschaft“ das Ende privaten Eigentums, eine Tyrannei der Mehrheit und andere Grässlichkeiten. Sie wollten daher die Reichweite demokratischer Politik  begrenzen. Den Kommunisten zufolge konnte eine bessere Welt nur aus der Zerstörung des Kapitalismus und der „bourgeoisen“ Demokratie erwachsen. Die Sozialdemokraten aber betonten die enorme transformative und progressive Macht der Demokratie: Sie könne die Vorteile des Kapitalismus maximieren, seine Nachteile minimieren und eine wohlhabendere und gerechtere Gesellschaft hervorbringen.

Artikuliert wurden solche Ansprüche besonders zwischen den Kriegen, als die Demokratie vom gefährlicheren Vorgänger des Populismus bedroht wurde: dem Faschismus. In den USA beispielsweise erkannte Franklin D. Roosevelt, dass es nicht nur die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Großen Depression zu bewältigen galt.  Auch die Angst, dass  die Demokratie auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ enden werde und die Zukunft in faschistischen und kommunistischen Diktaturen zu suchen sei, galt es zu überwinden. Daher musste er praktische Lösungen für aktuelle Probleme finden, gleichzeitig aber auch die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass eine bessere Zukunft am besten in der Demokratie geschaffen werden könne.

Staatschefs wie Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder sahen das Ziel der Linken darin, die kapitalistische Demokratie besser zu verwalten als die Rechte.

Eine ähnliche Dynamik entwickelte sich in der zweiten Mitte-Links-Erfolgsgeschichte jener Zeit: In Schweden. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) erkannte die Gefahren der instabilen Minderheitsregierungen, unter denen das Land zwischen den Kriegen litt, wie auch die Bedrohung durch die wachsende Macht des Faschismus und die Große Depression. Sie dachte die Beziehungen zwischen Staat und Kapitalismus neu und entwickelte die berühmte Formel „Keynesianismus vor Keynes“. Wie Roosevelt stellten sie der Wählerschaft nicht nur konkrete Lösungen für aktuelle Probleme, sondern auch die Schaffung einer besseren Welt in Aussicht. So hieß es im Wahlkampf 1932 in der Parteizeitung: „Die Menschheit hat ihr Schicksal selbst in der Hand. … Während die Bourgeoisie Gleichgültigkeit und Schicksalsergebenheit predigt, sprechen wir die Sehnsucht der Menschen nach Kreativität an … in dem Bewusstsein, dass wir ein Sozialsystem aufbauen können und wollen, in dem die Früchte der Arbeit denen zugutekommen, die bereit sind … sich an der gemeinsamen Aufgabe zu beteiligen.“ Die Partei verband diesen ökonomischen Aufruf mit dem Versprechen, Schweden in ein „Folkhemmet“, ein „Volksheim“ zu verwandeln, in dem sämtliche Barrieren, die „Bürger trennen“, beseitigt würden und in dem es keine „Privilegierten oder Vernachlässigten, Herrscher oder Abhängige, Plünderer und Geplünderte“ gebe. In der Folge galt die SAP in Schweden als die Partei mit den aufregendsten Plänen für eine bessere Welt, während in Ländern wie Deutschland und Italien die Faschisten als politisch aktiv und ehrgeizig wahrgenommen wurden.

Nach 1945 übernahmen viele sozialdemokratische Parteien die von Roosevelt und der SAP entwickelten politischen Ziele und Maßnahmen. Der Erfolg dieser Politik bei der Stabilisierung der kapitalistischen Demokratie veranlasste viele dazu, die Aufgabe der Linken eher technokratisch als transformativ zu interpretieren. Diese Entwicklung erreichte Ende des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt mit Führungspersonen wie Tony Blair, Bill Clinton und Gerhard Schröder. Sie hielten Umgestaltungsprojekte für veraltet oder sogar für gefährlich. Das Ziel der Linken sahen sie darin, die kapitalistische Demokratie besser zu verwalten, als die Rechte es konnte. Die Gefahren oder zumindest Nachteile dieser Haltung erkannte sogar Tony Blair selbst, der in einer Rede 2002 anmerkte, „manchmal kann es so aussehen, als wäre es eine rein technokratische Übung … gut oder weniger gut organisiert, aber ohne vorrangigen moralischen Zweck.“

Menschen suchen nach Führungspersönlichkeiten, die beweisen, dass Veränderungen möglich sind. Das zeigt der Aufstieg so unterschiedlicher Politiker wie Trump, Corbyn und Macron.

In guten Zeiten kann eine solche Politik ausreichen. In schlechten aber zieht die verbreitete Einschätzung, dass Regierungen den Status quo nicht ändern wollen oder können, Unzufriedenheit mit der Demokratie nach sich. Und hier kommt der Populismus ins Spiel. Populisten betreiben eine Politik der Angst – vor Verbrechen, Terrorismus, Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichem Niedergang, dem Verlust nationaler Werte und Traditionen – und behaupten, dass andere Parteien ihr Land in die Katastrophe führen. Umfragen verdeutlichen eine extrem pessimistische Einstellung der populistischen Wählerschaft: Sie hält die Vergangenheit für besser als die Gegenwart  und hat große Angst vor der Zukunft.

Aber Pessimismus hat die westlichen Gesellschaften auch insgesamt infiziert. So zeigt eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Pew Research Center, dass zwar immer mehr europäische Bürger die wirtschaftliche Situation ihres Landes als deutlich besser einschätzen als noch vor zehn Jahren, daraus jedoch kein gestiegener Zukunftsoptimismus erwächst. In vielen europäischen Ländern nimmt vielmehr das Gefälle zwischen Erfahrung und Erwartung zu: In den Niederlanden, in Schweden und Deutschland erklären beispielsweise 80 Prozent oder mehr Menschen, wirtschaftlich laufe es gut, doch weniger als 40 Prozent erwarten, dass es der nächsten Generation besser gehen wird als ihren Eltern. Diese Haltung spiegelt eine beunruhigende Realität wider: Besonders in Zeiten des Wandels und der Unsicherheit lassen sich Menschen mehr von Gefühlen als von Vernunft leiten. Roosevelt, die SAP und andere Sozialdemokraten erkannten das. Sie begriffen, dass ein Erfolg der linken Mitte und der Demokratie im Allgemeinen nicht nur auf praktischen Lösungen für aktuelle Probleme gründet, sondern auch auf einer optimistischen Vision, die der dystopischen Sicht der Populisten etwas entgegensetzen kann.

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Sozialdemokratie eben das zu bieten. Gegen Kommunismus und Liberalismus machte sie geltend, dass Menschen durch Zusammenarbeit und mit Hilfe des demokratischen Staates eine bessere Welt erschaffen können. Die Probleme des 21. Jahrhunderts sind formal andere, im Grunde aber ähnlich gelagert. Gebraucht wird heute eine Kombination aus pragmatischen politischen Maßnahmen, die Probleme wie wirtschaftliche Ungleichheit, Wachstumsverzögerung und den beunruhigenden sozialen und kulturellen Wandel anpacken und gleichzeitig die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen können, dass die liberale Demokratie der erfolgreichste Weg in eine bessere Zukunft ist. Der Aufstieg so unterschiedlicher Politiker wie Trump, Corbyn und Macron macht deutlich, wie verzweifelt viele Menschen nach Führungspersönlichkeiten suchen, die beweisen, dass Politik etwas bewegt und Veränderungen möglich sind, wenn nur der Wille da ist. Solange Mitte-Links-Parteien dieser Sehnsucht nicht gerecht werden, wenden sich die Wähler anderen Parteien zu, die das tun – mit potenziell düsteren Folgen für das Schicksal der liberalen Demokratie.

Sheri Berman ist Professor für Politikwissenschaft am Barnard College der Columbia University. Ihre Forschungsinteressen umfassen europäische Geschichte und Politik; die Entwicklung der Demokratie; Populismus und Faschismus; und die Geschichte der Linken.

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