Neustart im Herbst ?
von Dieter Weirich

„Außenkanzler“ Friedrich Merz macht auf der europapolitischen Bühne unbestreitbar bella figura, mehr als 70 Prozent der Bevölkerung erwartet aber mehr Engagement und Ehrgeiz im Innendienst. Hatte der Regierungschef seinem Vorgänger Olaf Scholz einst vorgeworfen, ein „Klempner der Macht“ zu sein, so muss der im Umfragetief verharrende Merz in dem von ihm selbst ausgerufenen „Herbst der Entscheidungen“ mehr handwerkliche Fähigkeiten als bisher gezeigt aufweisen. Sonst wird aus dem erhofften, aber bisher nicht eingetretenen Stimmungsumschwung eine deutsche Dauer-Tristesse,
Der Aufgabenkatalog ist gewaltig. Die Finanzen laufen überall aus dem Ruder. Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosenzahlen steigen, die Sozialbeiträge steuern auf 46 Prozent des Bruttolohns zu, die Kosten für die Sozialhilfeleistungen sind im vergangenen Jahr um knapp 15 Prozent gestiegen, auch die Ausgaben für die Krankenversicherung und die Pflege explodieren. Die Wirtschaft stöhnt unter Arbeits-und Energiekosten, hohen Steuerbelastungen und einem nicht endenwollenden Regulierungsfetischismus.
OECD, Bundesbank, Rechnungshof und die führenden Wirtschatswissenschaftler fordern umfassende Strukturreformen. Mit dem Investitionsbooster ist es aus ihrer Sicht nicht getan, rasch sinkende Steuern seien ein Gebot der Stunde, Das Wappentier des neuen Regierungsbündnisses scheint aber die Weinbergschnecke zu sein. Erst sollen Kommissionen, vor allem im Sozialbereich, Vorschläge erarbeiten, erst dann sei der Gesetzgeber dran. Jeder erfahrene politische Betrachter weiß aber, dass man mit unbequemen Reformen, für die es reichlich sofort zurückgewiesene Vorschläge gibt, am Anfang der Legislaturperiode starten muss, mit jeder Landtagswahl-Niederlage lässt der Mut der Akteure so oder so nach.
„Wo fängt die Eigenverantwortung an, wo hört sie auf, wo geht sie in Solidarität über“ ? Mit dieser Bemerkung hat Merz die Grundsatzfrage aufgeworfen. Soll dies aber nicht nur eine Meditation auf dem Philosophenhügel bleiben, muss die schwarz-rote Koalition ein Leuchtturmprojekt für die Strukturreform statt Klingbeils bequemem Griff in die Steuerkasse vorschlagen und auch konsequent realisieren. Nach dem Rumpelstart bedarf es eines überzeugenden Neubeginns.
Dieter Weirich (Jg. 1944), gelernter Journalist, kommentiert jede Woche mit spitzer Feder seine Sicht auf das aktuelle Geschehen in rantlos; mit freundlicher Genehmigung der “Zeitungsgruppe Ostfriesland (ZGO)”. Weirich war von 1989 bis 2001 Intendant des deutschen Auslandsrundfunks Deutsche Welle. Zuvor gehörte er eineinhalb Jahrzehnte als CDU-Abgeordneter dem Hessischen Landtag und dem Deutschen Bundestag an, wo er sich als Mediensprecher seiner Partei und als Wegbereiter des Privatfernsehens einen Namen machte. Außerdem nahm er Führungspositionen in der PR-Branche in Hessen wahr. Weirich, der sich selbst als „liberalkonservativen Streiter” sieht, gilt als ebenso unabhängig wie konfliktfreudig.
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