Politik: Europas schleichender Rechtsruck

In Brüssel kippt das Machtgefüge: Die Europäische Volkspartei öffnet sich nach rechts und verändert damit die politische Agenda der EU nachhaltig.

Sitzung des Europäischen Parlaments

Europa rückt nach rechts. Quer durch den gesamten Kontinent gewinnen in fast allen europäischen Ländern rechtspopulistische, rechtsradikale oder gar rechtsextreme Parteien bei Wahlen deutlich an Zustimmung. In etlichen Staaten sind sie bereits an der Regierung beteiligt, und in manchen – wie beispielsweise Italien, Ungarn oder der Slowakei – stellen sie gar den Regierungschef. Allenthalben herrscht eine wahrnehmbare Ratlosigkeit, wie dieser Rechtsruck gestoppt werden kann. Auch die Hoffnung, dass konservativ geführte Regierungen diesen Trend zur extremen Rechten aufhalten könnten, scheint sich nicht zu erfüllen – wie jüngst auch das deutsche Beispiel lehrt, wo nach der Regierungsübernahme der CDU der Höhenflug der AfD weiter anhält.

Dieser Rechtsrutsch verändert nicht nur nationale Politiken, sondern hat auch maßgeblichen Einfluss auf die Agenda der EU und das europäische Integrations- und Einigungsprojekt. Aber im Unterschied zu dem, was auf nationaler Ebene passiert, vollzieht sich der Rechtsruck in der EU deutlich unsichtbarer, gleichsam schleichend und von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Dies liegt zum einen daran, dass sich nur selten ein breiteres Publikum mit den komplexen europäischen Strukturen befasst, und zum anderen daran, dass auf den ersten Blick in Brüssel alles seinen gewohnten Gang zu gehen scheint.

Ist nicht die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die alte, die seit 2019 der EU vorsteht und deren prominentestes Gesicht ist? Nur die wenigsten europäischen Bürgerinnen und Bürger werden in der Lage sein, einen oder gar mehrere Kommissare namentlich zu nennen – geschweige denn deren Portfolio, nationale Herkunft oder politische Zugehörigkeit. So wird der Schleier des Nichtwissens leicht zur optischen Täuschung im Blick auf Europa und die Verschiebungen im Machtgefüge und in der politischen Agenda Brüssels.

Im Juni 2024 fanden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Statt wie einst über 343 Sitze verfügen die Mitte-links-Parteien (inklusive der Liberalen) seitdem nur noch über 312 Abgeordnete. Gab es in der vorangegangenen Legislatur rechts der EVP mit EKR (Europäische Konservative und Reformer) und ID (Identität und Demokratie) zwei Fraktionen mit zusammen 118 Abgeordneten, bestehen nun mit EKR, den Patrioten für Europa und Europa der Souveränen Nationen drei Fraktionen rechts der EVP, die zusammen über 187 Sitze verfügen. Wenn man allein auf die Sitzverteilung blickt, sind 31 Sitze – also gerade einmal gut vier Prozent der insgesamt 720 Mandate – von links der EVP nach rechts der EVP im Parlament gewandert. Mathematisch eigentlich zu wenig, um von einem Erdrutsch zu sprechen.

Die in Deutschland so gern beschworene Brandmauer gibt es in Brüssel schon lange nicht mehr.

Aber Politik ist nicht Mathematik, sondern das, was man aus Zahlen macht. So eröffneten diese eigentlich überschaubaren Verschiebungen in der parlamentarischen Sitzverteilung der EVP Handlungsspielräume, die sie zuvor nicht hatte. Wurden in der Vergangenheit Entscheidungen im Europäischen Parlament stets von einer informellen großen Koalition aus EVP und S&D (und seit 2019 oft auch unter Einbezug von Renew und/oder den Grünen) getroffen, gibt es seit Juni 2024 die Möglichkeit alternativer Mehrheiten rechts der Mitte. Und es gibt den politischen Willen seitens der EVP, diese nicht nur als theoretische Optionen zu betrachten, sondern aktiv zu nutzen.

Die in Deutschland so gern beschworene Brandmauer gibt es in Brüssel schon lange nicht mehr. Der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber hat sie bewusst eingerissen. Er verweigert sich aus Machtkalkül einem klaren Bekenntnis zur Mehrheitsfindung in der demokratischen Mitte und hat keine Scheu, bei Abstimmungen auch Allianzen mit den Rechtsaußenfraktionen einzugehen. Besonders brisant ist dieses Agieren Webers, da die Rechtsaußenkräfte im Unterschied zu den vergangenen Legislaturen die EU-Gesetzgebung nun aktiv mitgestalten wollen.

Waren sie früher primär durch die Veruntreuung von EU-Geldern (die Verurteilung von Marine Le Pen ist hier das prominenteste Beispiel) und durch ihre Abwesenheit im Parlament und bei der Ausschussarbeit aufgefallen, haben sie nun ihre Strategie geändert. Sie zeigen Präsenz und versuchen insbesondere bei ihren rechtspopulistischen Kernthemen – Anti-Klimaschutz, Anti-Migration und Anti-Gleichstellung – Einfluss auszuüben.

Und die EVP unterstützt sie tatkräftig dabei: So erhielten unlängst die Patrioten die Verantwortung für die Verhandlungen zum Klimaziel 2040, nachdem die EVP entgegen ihrer vorherigen Ankündigung ihr Interesse an dem Dossier zurückgezogen hatte. Somit stellt erstmals eine rechtsextreme Fraktion einen Chefverhandler im Europäischen Parlament.

Diese durch die EVP vollzogene Öffnung nach Rechtsaußen verändert nicht nur die politische Agenda der EU, sondern zerstört zunehmend die bislang konsens- und dialoggeprägte politische Kultur Brüssels. Der Vertrauensverlust der anderen demokratischen Fraktionen in die EVP und insbesondere in Weber ist massiv. Diese Erosion zeigt sich auch bei der bröckelnden Unterstützung für Kommissionspräsidentin von der Leyen. Wurde sie im Juli 2024 noch mit 401 (von 719 Stimmen) zur Präsidentin gewählt, erhielt sie bei der Bestätigung ihrer Kommission im November nur noch 370 Ja-Stimmen, und bei dem Misstrauensantrag gegen von der Leyen stellten sich jüngst nur noch 360 Abgeordnete an ihre Seite. Der bewusst doppeldeutige Kurs von Weber schwächt sichtbar die Kommissionspräsidentin und stärkt hingegen seine eigene Macht – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Der europaweite Rechtsruck ist in der politischen Herzkammer der EU, dem Parlament, angekommen.

Der europaweite Rechtsruck ist – von der breiteren europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – in der politischen Herzkammer der EU, dem Parlament, angekommen. Bei den weiteren Institutionen der Union, dem Rat und der Kommission, ist er dagegen deutlich sichtbarer. Während in der vergangenen Legislatur noch je zehn Kommissare von EVP und S&D gestellt wurden, kommen aktuell nur noch vier Kommissare von S&D (aus Spanien, Dänemark, Rumänien und Malta) gegenüber 15 der EVP. Die Rechtsaußenfraktionen stellen erstmals zwei Kommissare und verfügen mit Raffaele Fitto, dem Getreuen Giorgia Melonis in Brüssel, gar über einen Exekutiv-Vizepräsidenten, der zudem für das umfangreiche Portfolio Kohäsion und Reformen verantwortlich ist.

Im Europäischen Rat, der sich aus den jeweiligen Regierungschefs zusammensetzt, herrscht ein vergleichbares Bild. Gegenwärtig werden nur Spanien, Dänemark, Litauen und Malta von einer sozialdemokratischen Regierung geführt; hingegen sind in elf der 27 EU-Staaten EVP-Parteien an der Macht. In Italien, Ungarn und der Slowakei stellen dezidierte Rechtsaußenparteien die Regierung; in etlichen weiteren Ländern sind sie als Juniorpartner beteiligt. Diese Länder stehen einer Vertiefung der europäischen Integration und Stärkung der EU nicht nur ablehnend gegenüber, sondern fordern auf vielen Politikfeldern eine Renationalisierung und Schwächung der Union.

Dieser dreifache Rechtsruck im Europäischen Rat, in der Kommission sowie im Parlament ist nicht ohne Folgen für die politische Ausrichtung und Agenda der EU. War die erste Kommission von der Leyen (2019–2024) in vielen Bereichen durch mitunter wegweisende Gesetzgebung und progressive Ausrichtung gekennzeichnet – sei es bei der sozialökologischen Transformation, der gesetzlichen Regulierung digitaler Dienstleistungen und digitaler Märkte, der Einführung einer Mindestlohnrichtlinie oder Lieferkettenverordnung und durch die insgesamt erfolgreiche Reaktion auf die Covid-Pandemie –, hat sich die Agenda der aktuellen Kommission von der Leyen vor dem Hintergrund der veränderten Machtverhältnisse in Rat und Parlament deutlich verschoben.

Das einst ambitionierte Kernprojekt des European Green Deal wurde zum Clean Industrial Deal geschrumpft. Die zentralen Themen sind nun Sicherheit – gleichsam als Querschnittsthema, sei es bei Verteidigung, Migration, Außengrenzen oder Demokratie – und insbesondere Wettbewerbsfähigkeit. Bürokratieabbau und Deregulierung sind in Brüssel die Schlagworte der Stunde. Mit zahllosen sogenannten Omnibusverordnungen sollen bereits etablierte Standards und Berichtspflichten wieder eingeebnet werden. Es besteht die Gefahr, dass unter dem Mantel der Wettbewerbsfähigkeit soziale Standards abgebaut und Arbeitnehmerrechte eingeschränkt werden.

Es gilt nun, die kleiner gewordenen Handlungsräume strategisch besser zu nutzen.

Der jüngst vorgelegte Entwurf der Kommission zum neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (2028–2034) beschränkt die Rolle des Europäischen Parlaments, stärkt die Nationalstaaten und schwächt deren föderale Strukturen. Entgegen ihrem Anspruch ist die EU nicht nur im geopolitischen Kontext äußerst schwach (siehe Ukraine und Gaza), sondern auch in ihrer eigentlichen Kernkompetenz, dem wirtschaftspolitischen Feld – wie der schottische Kniefall von der Leyens vor Trumps Zolldiktat überdeutlich zeigt.

Was bedeutet dies für die progressiven Kräfte in der EU, die derzeit kein wirkmächtiges Gegengewicht haben? Die veränderten Mehrheiten in Rat und Kommission sowie die geschwächten Mitte-links-Fraktionen im Parlament haben die Agenda nach rechts verschoben. Bei der politischen Zusammensetzung der Kommission wird es in dieser Legislatur zu keinen Veränderungen kommen. Im Europäischen Rat mögen nationale Wahlen in den nächsten Jahren Verschiebungen bringen, aber diese könnten die Machtbalance weiter zu Ungunsten der progressiven Kräfte verändern – etwa, wenn in Spanien Neuwahlen stattfänden.

Es gilt nun, die kleiner gewordenen Handlungsräume strategisch besser zu nutzen. In mehreren europäischen Ländern sind progressive Parteien als Juniorpartner an der Regierung beteiligt. So stellt sich für Deutschland beispielsweise die Frage, wie die SPD ihre Rolle als Koalitionspartner in der Bundesregierung und zugleich als Teil der S&D nutzt. Eine engere Verzahnung zwischen Berlin und Brüssel würde dazu beitragen, progressive Prioritäten beidseitig kohärenter zu vertreten und Mehrheiten in strittigen Dossiers zu organisieren. Hier müsste auch eine europaweite Koordinierung stattfinden.

Und schließlich gilt es im Parlament, den Machtspielen von Weber und der EVP einen Riegel vorzuschieben und sie auf eine Zusammenarbeit mit den progressiven Kräften zu verpflichten. Die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen eröffnen den progressiven Kräften die Möglichkeit, klare Prioritäten zu setzen: soziale Absicherung und Qualifizierung, eine investive und zukunftsorientierte Klima- und Industriepolitik sowie rechtsstaatliche Konditionalität und demokratische Teilhabe. Eine geschlossene und sichtbare Prioritätensetzung würde gleichzeitig die Verhandlungsmacht gegenüber der EVP erhöhen und progressive Gestaltungsräume eröffnen. Geschlossenheit in der S&D-Fraktion und die enge Verzahnung der progressiven Kräfte auf nationaler und europäischer Ebene sind hierfür die Voraussetzung. Gelingt dies, kann dem Rutsch nach rechts – trotz veränderter Mehrheitsverhältnisse – die Stirn geboten werden.

Tobias Mörschel ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brüssel. Zuvor war er Direktor des dortigen Kompetenzzentrums Future of Work, Leiter des FES-Büros in Italien und in den Baltischen Staaten.

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