Von Gisbert Kuhn

 

Autor Gisbert Kuhn

Vor 31 Jahren durften die Deutschen ihre Wiedervereinigung feiern. Das Ende der Spaltung der Nation und des Staates sowie auch des Risses, der jahrzehntelang durch ungezählte Familien ging. Und sogar noch viel mehr als das – damals, in den historisch turbulenten Monaten 1989/90 löste sich auch die politische, militärische, wirtschaftliche und ideologisch-gesellschaftliche Teilung der Welt in Ost und West auf. Jedenfalls schien es so. Und die Menschen wollten es auch glauben – glauben, dass niemand mehr Angst haben müsse vor einem nuklearen Kriegsinferno und keine Mauern und Stacheldrahtzäune die Völker daran hindern würden, einander friedvoll zu begegnen.

Ein schönes Utopia, das sich vor drei Jahrzehnten im Jubel des Wiedersehens nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch von Kommunismus und Warschauer Pakt so mancheiner vorgestellt hat. Das Wort von der Friedensdividende fand in jenen Tagen seinen Ursprung und hat seitdem (mal mehr, mal weniger) Konjunktur. Es gibt, bedeutet dieser Begriff, doch keinen Feind mehr. Wir sind vielmehr umgeben nur noch von Freunden. Schluss also mit der sinnlosen Verschwendung von Milliardensummen für Rüstung. Lasst uns, stattdessen, die Armut beseitigen, daheim und auf der Erde. Kurz: Jetzt ist die Zeit, um die Welt besser zu machen.

Und wo könnte ein besserer Anfang dafür gemacht werden als im eigenen Land, wo sich freilich – nach anfänglicher Euphorie – rasch zeigte, wie viele Gräben in den Jahren der Trennung zwischen den Deutschen in Ost und West tatsächlich entstanden waren. Am 3. Oktober, dem (Feier) Tag der deutschen Einheit, hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel in Halle (Saale) eine bewegende Rede. Es war die vielleicht ergreifendste in ihrer ganzen Karriere. Denn sie, die im Osten unseres geteilten Landes Aufgewachsene und Sozialisierte, die normalerweise kaum jemals einen Blick in ihre Gefühlswelt zuließ – diese Frau berichtete mit einem Mal aus ihrem früheren Leben und fügte diese Erlebnisse ein in ihre Erfahrungen mit und Vorstellungen von Demokratie.
Genauer gesagt: Vom Wert demokratischer Lebensumstände im Vergleich zu jenen in autoritäten oder diktatorischen Gesellschaften. In einer ähnlichen, erkennbar von persönlichen Gefühlen bestimmten, Tonlage hatte sich Merkel in ihrer 16 Jahre währenden Regierungszeit zuvor nur zweimal an die Deutschen gewandt: Einmal, als sie 2015 zu erklären versuchte, warum sie vor dem anstürmenden Heer der nahöstlichen Kriegs- und Armutsflüchtlingen nicht die deutschen Grenzen verschloss. Und das andere Mal, als sie – angesichts der Corona-Pandemie – die heimische Bevölkerung geradezu anflehte, das vom Bund und den Ländern verfügte praktisch totale Herunterfahren des öffentlichen, wirtschaftlichen und privaten Lebens zu akzeptieren und zu befolgen.

Der Blick ins Land und in unsere Gesellschaft lässt freilich nicht gerade den Schluss zu, dass die Menschen hierzulande sich wirklich bewusst sind, in welch beneidenswerten Um- und Zuständen sie (trotz aller nicht zu leugnenden Probleme) tatsächlich leben. Jedenfalls verglichen mit den katastrophalen Bedingungen in vielen anderen Regionen der Erde. Es hat stattdessen oft den Anschein, als liege ein seltsam verwobener Schleier aus Unzufriedenheit, Angst, Schwarzseherei und Pessimismus über dem Land. Eine Stimmung die sich – vor allem über die (un)sozialen Netze befeuert – immer häufiger in Hass verwandelt und auf den Straßen als Aggressivität entlädt. Der vor wenigen Tagen in Idar-Oberstein verübte Mord an einem jungen Tankstellen-Kassierer macht zwar fassungslos. Aber konnte er uns wirklich überraschen? Wird das angebliche Motiv des Täters – Wut wegen der Aufforderung zum Mundmaske-Tragen – nicht täglich zum Beispiel bei facebook angeheizt?

Selbstverständlich ist ein Land, ein Volk, eine Nation kein festgefügter, also weitgehend einheitlich denkender und handelnder Block. Je freier und toleranter ein politisches System ist, desto vielfältiger und bunter präsentieren sich seine Bürger. So sollte es wenigstens sein. Aber: Vielfalt und Freiheit bedeuten doch keineswegs Schrankenlosigkeit. Sie können sich, im Gegenteil, nur dann entfalten, wenn bei den Bürgern jenes Bewusstsein lebendig ist und praktiziert wird, das man früher als “Gemeinsinn” bezeichnete. Darüber hinaus bedarf eine Gesellschaft zum friedlichen Zusammenleben eines gewissen Rahmens. Im allgemeinen ist dieser (wenigstens bei uns) in einer demokratisch beschlossenen Verfassung niedergeschrieben. Diese Plattform bildet ja schließlich das Fundament für das Leben in Freiheit.
76 Jahre nach dem Ende des Krieges und der damit verbundenen unfassbaren Gräuel, aber auch von Diktatur und Nazi-Terror, nach der in einem Dreiviertel-Jahrhundert gewachsesnen Erfahrung von Demokratie, poluitischer Eigenverantwortung und Wiedereingliederung in die zivilisierte Völkergemeinschaft sowie 31 Jahre nach dem Geschenk der staatlichen Einheit – wie steht es eigentlich um unser nationales Innenleben? Wie ist es bestellt um unsere Gefühlswelt? Wie ausgeprägt ist das Bewusstsein (oder zumindest das Wissen darum), dass Deutschland und die Deutschen in ihrer geopolitischen Lage mitten in Europa sich (bildlich gesprochen) nie als bloße Beobachter in einen bequemen politischen Ohrensessel würden zurücklehnen können? Schon gar nicht, angesichts ihrer wirtschaftlichen Potenz und militärischen Stärke.
Die Fragen ließen sich unschwer noch fortsetzen. Die Antworten darauf sind freilich eher ernüchternd. Vor allem, wenn man sie mit dem eingangs erwähnten Ereignis (dem “Tag der deutschen Einheit” und Merkels bemerkenswerter Ansprache) und dem Ergebnis der jüngsten Bundestagswahlen verknüpft. Eigentlich müsste allein schon die Tatsache, dass mit CDU/CSU und SPD beide traditionellen “Volksparteien” von den Wählern regelrecht “eingedampft” wurden, müsste doch eigentlich sämtliche Alarmglocken schrillen lassen. Dass indessen auch noch die Stimmbürger in den beiden ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen die inzwischen am alleräußersten rechten Rand des bundesdeutschen Parteienspektrums angekommene “Alternative für Deutschland” (AfD) zur stärksten politischen Kraft erkoren, macht fassungslos.

Ohne Frage, haben längst auch im Westen die klassischen, traditionellen Bindungswirkungen großer Organisastionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Vereinen und nastürlich Parteien in der Gesellschaft erkennbar abgenommen. Und auch zwischen Flensburg und Konstanz, Rhein und Weser blieben die Lockrufe von den politischen Rändern nicht ohne Wirkung. Aber das Ergebnis war im Grunde immer nur jener radikale “Bodensastz”, wie er in ähnlicher Stärke praktisch in allen vergleichbaren Ländern zu finden ist. Dagegen offenbarte sich in Thüringen wie Sachsen geradezu exemplarisch eine Gesellschaft praktisch ohne Verwurzelung in das nun immerhin doch schon über drei Jahrzehnte gelebte und mithin gar nicht mehr “neue” demokratische System.
Lassen wir die “Hoffnungswahlen” in Richtung Einheit und D-Mark in der DDR aus den Jahren 1989/90 mal beiseite, als ganz sicher sogar alte SED-Kader Helmut Kohl ihre Stimme gaben, und bleiben bei den beiden (damals) neuen Ländern. Als in Thüringen der (westdeutsche) Bernhard Vogel und in Sachsen (der ebenfalls westdeutsche) Kurt Biedenkopf höchst erfolgreiche Ministerpräsidenten waren, wurde die dortige CDU immer mit absoluter Mehrheit gewählt und besetzte bis nahezu ins letzte Dorf die Bürgermeisterstühle. Als, nach Vogel, der CDU-Glanz abnahm, wechselten die Wähler in Scharen zur inzwischen mehrfach umgetauften Partei “Die Linken”. Also ausgerechnet zu den Nachfolgern jener ehemaligen Einheitspartei, die nicht nur in 40 Jahren einen Staat herunterwirtschaftete, sondern zugleich noch abertausende von Menschenschicksalen auf dem Gewissen hat. Noch 2009 ließ sich “Die Linke” vom Berliner Landgericht diese Nachfolgeschaft ausdrücklich bestätigen. Kein Wunder, hing davon doch der Anspruch auf das SED-Vermögen ab.

Doch genauso, wie die Thüringer das Polit-Pendel nach ganz links bewegt hatten, ließen sie es jetzt nach rechtsaußen schwingen. Wegen wirtschaftlicher Unzufriedenheit oder dem Gefühl, in Deutschland einig Vaterland noch immer benachteiligt zu sein? Solche Dinge haben gewiss mitgespielt, obgleich sowohl Thüriungen als auch Sachsen mittlerweile regelrechte Vorzeigeregionen und Betriebe haben und die ländlichen Gebiete auch im Westen mit ähnlichen Problemen bei Verkehr und Infrastruktur zu kämnpfen haben. In Sachsen – mit Leipzig und Dresden als Leuchttürmen – sieht die ökonomische Situation vergleichbar aus. Dort allerdings brauchten die dortigen Wähler erst gar keine linke “Brücke” – sie schwangen gleich von CDU (und auch den anderen Parteien) zur AfD hinüber.

Man habe es, heißt es dazu immer gern beschwichtigend, halt mit einem Protestverhalten der Menschen zu tun. So sei es nun mal in der Demokratie. Nein, mit derart billigen Erklärungen darf man sich nicht zufriedengeben. Es ist kein Kasperle-Theater, Parteien oder eilnzelne Menschen zu wählen, die kaum oder gar kein Hehl daraus machen, einem Gedankegut anzuhängen, das nicht nur über Deutschland furchtbarstes Elend brachte, sondern über weite Teile dieseer Erde. Es ist kein auch politisches Glasperlenspiel, Bewegungen zu stärken, die inzwischen ohne jede Scheu wieder antisemitische und sonstige rassistischen Parolen grölen und sogar vor politisch motivierten Mordtaten nicht zurückschrecken.

Irgendetwas hat versagt in diesem Land. Wahrscheinlich ist sogar Vieles schiefgelaufen. Beginnend mit der Schule und deren Bildungsauftrag. Aber der Vorwurf greift weiter. Warum gelingt es immer weniger, das simple Wissen zu vermitteln, dass unser Nationalstaat zwar als Heimat unendlich wichtig ist – aber unser Schicksal “Europa” heißt? Oder glaubt wirklich irgendjemand, wir (gleichgültig ob Deutsche, Franzosen oder gar Polen und Ungarn) könnten allein auch nur das Geringste ausrichten im Machtspiel zwischen USA und China oder, oder…? Überhaupt: Im eben zuende gegangenen Bundestagswahlkampf spielte Außen- und Sicherheitspolitiki überhaupt keine Rolle. Und das, obwohl zum Beispiel die Chinesen keinerlei Hehl daraus machen, bis 2030 die Nummer eins in der Welt werden zu wollen. Auch wirtschasftlich, auch militärisch. Um damit die Überlegenheit ihres “Systems” zu beweisen. Wollen wir uns dem unterwerfen?

Der große liberale Soziologe Max Weber sagte einmal: “Was nützt die ganze Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen?” Nun ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kosaken kommen, fraglos relativ klein geworden. Stattdessen hat China im Zuge der von Peking proklamierten “Neuen Seidenstraße” zum Beispiel immerhin die Mehrheit an und damit die Kontrolle über die ungarische Staatsbahn übernommen. Sollte uns das zu denken geben? Iwo – wir beschäftigen uns mit wichtigeren Problemen. Zum Beispiel mit der Notwendigkeit, unter Zuhilfenahme von Sternchen, Doppelpunkten, Schräg-, Unter- und Oberstrichen die deutsche Sprache zu verschönern. Man nennt dass “Gendern” und bezeichnet es als absolute Notwendigkeit, um die Gesellschaft endlich “gerecht” zu machen…

 

Gisbert Kuhn ist Journalist und war über viele Jahre innenpolitischer Korrespondent für Zeitungen sowie Mitarbeiter bei Rundfunk und Fernsehen in Bonn und Brüssel.     

    

- ANZEIGE -