Lügen und Scham
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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Dirk Kaesler: Lügen und Scham

Das Buch des renommierten Soziologen Kaesler ist eine Spurensuche nach dem Vater, dem er durch wörtlich wiedergegebene Interviews mit seiner Mutter, einem späten Treffen mit diesem Vater und dem Inhalt einer überlieferten Kiste mit Briefen nachzuspüren versucht. Vielleicht bewusst hat er die schmerzhafte Aufdeckung erst vollendet, nachdem die Beteiligten alle verstorben sind.
Schonungslose Offenheit kennzeichnet das Buch, das in einem Heim der Lebensbornbewegung begann, in dem die verwitwete Mutter arbeitete. Der erste Mann gefallen, das ungeborene Kind verloren und nun hat die Frau einem verheirateten SS-Mann, der auch in diesen Heimen zu tun hat, ein Kind geschenkt. Immer wieder erlebt Kaesler das Verlassen-werden, mal haust er bei den Großeltern, mal wird er zur Kindererholung ins Heim geschickt, weil die Mutter krank durch Überlastung, Unterernährung und psychisch ausgelaugt ist und das sehr zarte Kind gekräftigt werden soll. Zur Konfirmation eröffnet sie dem Sohn, dass sein Vater nicht der gefallene Soldat ist, dessen Namen er trägt. Stattdessen ist er das uneheliche Kind eines „Don Juan“, der sein Sperma ungebremst in der Welt verstreut und für die Folgen auch noch bemitleidet werden will.
Wie viele Kriegswaisen wurde der Sohn von der Mutter als Partnerersatz symbiotisch gefesselt. Jahrelang hat sie sich vom Mann mit einem Eheversprechen hinhalten lassen, seine Ehefrau wolle keine Scheidung. Mit der nächsten Geliebten ist bei Kaeslers Mutter der Zug schon abgefahren, der inzwischen doch noch Geschiedene heiratet die schwangere Neue und verbittet sich weitere Bettelbriefe. Das Gefühl des Im-Stichgelassen-Seins durch den eigenen Vater verfolgt den Sohn verständlicherweise besonders, da seine eigenen Beziehungen scheitern und er sich nach den Gründen eigenen Handelns fragt. Beim einzigen Treffen Jahrzehnte später kommt es zu keinem echten Gespräch mit dem Erzeuger.
Hart war das Leben solcher Alleinerziehender in der unmittelbaren Nachkriegszeit, finanziell mehr als dürftig versorgt. Der Autor stellt seine Zitate und Interpretationen in allgemeinen Zusammenhang, informiert zu den Lebensbornheimen, Ideologie und Vorschriften der Nazizeit, die seine Kindheit beeinflussten, trägt Erinnerungen an ehemalige Nachbarn zusammen und stellt die enttäuschten Erwartungen der Großeltern in Rechnung. Die Summe hat – bei allem Selbstbewusstsein über seine berufliche Karriere – seine private Bindungsfähigkeit beeinträchtigt. Es wäre Kaesler zu wünschen, dass die empfehlenswerte Veröffentlichung in dieser Hinsicht noch eine positive Wirkung entfaltet. Ähnliche Schicksale wird es wohl zuhauf geben, nicht zuletzt wieder im aktuellen Krieg.
Dirk Kaesler, Jahrgang 1944, ist emeritierter Universitätsprofessor für Soziologie. Seine soziologische Sichtweise ist geprägt durch seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Max Weber, Norbert Elias, Erving Goffman und Pierre Bourdieu. Kaeslers Freude an erzählerischer Darstellungsweise wurde dokumentiert in seiner viel beachteten Biografie Max Webers.
Vergangenheitsverlag, Berlin