Politik: Von der Angst befreit
Studentenproteste bringen Serbien zum Brodeln. Wie lange hält das System von Präsident Vučić?
Es sind beeindruckende Bilder, die dieser Tage aus Serbien kommen: Zehntausende Menschen verharrten in ohrenbetäubender Stille für 15 Minuten. Seit dem 1. November 2024 wird diese beeindruckende Szene immer wieder sichtbar. Kurz vor Weihnachten versammelten sich über 100 000 Menschen auf dem Slavija-Platz in Belgrad bei einer der größten Demonstrationen der Landesgeschichte. Doch ein Silvester, an dem rund um Mitternacht Zehntausende bei Minustemperaturen, dichtem Nebel und gesundheitsschädlicher Luftverschmutzung schweigend ausharrten, gab es noch nie. Tausende Bürgerinnen und Bürger folgten dem Aufruf der Studierenden und schufen mit diesem kraftvollen Akt des Gedenkens, der Empathie und des Widerstands ein symbolträchtiges Zeichen von Zusammenhalt und Solidarität.
Aber der Reihe nach: Am 1. November 2024 stürzte das Vordach des Bahnhofs in Novi Sad ein und tötete 15 Menschen. Der Bahnhof war erst kürzlich „nach europäischen Standards“ renoviert worden und wurde sogar zweimal feierlich eröffnet – selbstverständlich vor der geplanten Frist und im Beisein höchster Staatsträger. Die Regierungspartei SNS und Präsident Aleksandar Vučić inszenieren sich seit Jahren gerne als visionäre Bauherren. Trotzdem beteuerte der Präsident, dass zwar der gesamte Bahnhof renoviert worden sei, nur eben nicht das Vordach. Er forderte, die Verantwortlichen aus dem Jahr 1964 – dem Baujahr des Bahnhofs – zu suchen. Diese Aussage wurde schnell widerlegt. Und nicht nur das: Gutachten zeigen, dass das Vordach 23 Tonnen schwerer war als erlaubt.
Wie immer reagierte die Regierungspartei auf das Bürgerbegehren mit Gewalt.
In einem System, in dem Wissen geringgeschätzt und Parteiloyalität über alles gestellt wird, zählen Anstand und Institutionen offenbar wenig. Der tragische Vorfall brachte die Menschen in ihrer Verzweiflung und Fassungslosigkeit zusammen – und sie gingen auf die Straße, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Das Stehen in Stille – freitags um 11:52 Uhr, zur Stunde des Dachsturz-Unglücks – auf Straßen und Kreuzungen im ganzen Land, ist zu einer Gedenk- und Protestform geworden. Doch wie immer reagierte die Regierungspartei auf das Bürgerbegehren mit Gewalt. Schergen wurden ausgesandt, die die Menschen verbal, physisch oder sogar direkt mit dem Auto angriffen. In einer seiner über 350 TV-Auftritten allein im Jahr 2024 erteilte der Präsident die Erlaubnis, in die Menschenmengen zu fahren. Viele seiner Anhänger nahmen diese Einladung an. Verhaftet wurden die Bürgerinnen und Bürger, die sich wehrten – nicht die Angreifer.
Ein Angriff auf Studierende der Schauspiel- und Kunstfakultät in Belgrad löste jedoch eine noch nie da gewesene Welle an Fakultätsblockaden aus. Innerhalb kürzester Zeit waren die vier größten Universitäten des Landes – Belgrad, Novi Sad, Niš und Kragujevac – vollständig blockiert. Eine solche Bewegung hatte es selbst in den 1990er Jahren, als Studierende gegen den damaligen Diktator Milošević kämpften, nicht gegeben.
Die Studierenden stellen drei Forderungen. Erstens: Die gesamte Dokumentation zur Sanierung des Bahnhofs muss öffentlich gemacht werden, und alle Verantwortlichen sollen juristisch zur Rechenschaft gezogen werden. Bislang ist das Projekt als zwischenstaatlicher Vertrag zwischen Serbien und China deklariert, was es zum Staatsgeheimnis macht und dadurch enormen Spielraum für Korruption eröffnet. Die zweite Forderung lautet, dass alle Angreifer auf Studierende und Bürgerinnen und Bürger strafrechtlich verfolgt werden müssen. Bisher bleiben diese unbehelligt, obwohl die Internetgemeinschaft sie oft binnen Stunden anhand von Fotos identifiziert. Die meisten sind nicht nur Parteifunktionäre der Regierungspartei, sondern bekleiden zudem öffentliche Ämter. Und drittens wird gefordert, dass all diejenigen Studierenden und Bürger freigelassen werden, die verhaftet wurden, und dass die Verfahren gegen sie eingestellt werden. Zahlreiche Menschen wurden für mehrere Wochen inhaftiert, nur weil sie ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wahrnahmen und Gerechtigkeit für die 15 Toten von Novi Sad forderten. Verwahrungen von bis zu 48 Stunden werden ebenfalls regelmäßig verhängt, besonders gegen jene, die sich gegen die Schläger zur Wehr setzen.
Diese Forderungen sind an die Staatsanwaltschaft und an zuständige Institutionen gerichtet, nicht an den allmächtigen Präsidenten. Das Problem ist, dass es jene Institutionen nur noch formal gibt. Sie wurden über die letzten Jahre im Zuge des State Capture – des gekaperten Staates und der Machtkonzentration beim Präsidenten – vollständig ausgehöhlt. Auch zeigen sich in den letzten Wochen immer offener Elemente eines Staatsstreichs. So hielt Präsident Vučić, völlig entgegen der geltenden Rechtslage, den Vorsitz über eine Kabinettssitzung der Regierung oder versammelte die Parteiführung im Präsidentensitz.
Mit dem simplen wie revolutionäre Satz „Du bist nicht zuständig“ schreiben die Studierenden gerade Geschichte. Mit der Feststellung dieser verfassungskonformen Tatsache stellen sie die gesamte politische Landschaft auf den Kopf. Bislang war der sich für alles zuständig fühlende – und sich dadurch im Widerspruch zur Verfassung befindliche – Präsident einfach hingenommen worden, in Serbien genauso wie im Ausland. Doch zumindest in Serbien scheint das zu enden.
Und die Studierenden haben noch etwas gelernt. Sie haben keine Anführer, entscheiden gemeinsam im Plenum über die nächsten Schritte und sind so weniger angreifbar. Natürlich versuchen die Machtapparate der Staatssicherheit trotzdem alles nach altbewährtem Rezept, um Menschen zu diskreditieren und zu verschrecken. Auf Handys gefundene Spionagesoftware zeigt, dass auch die Staatssicherheit im 21. Jahrhundert angekommen ist. Zurzeit wirken die Versuche allerdings eher unbeholfen und haben gegenteilige Effekte. So sind etwa Fotos von Pässen zweier Studenten, die vielbeachtete Medienauftritte hatten, in regierungstreuen Medien aufgetaucht. Mit der Tatsache, dass es sich um kroatische Pässe handelt, wollte man die alte nationalistische Hysterie entfachen und „beweisen“, dass die Proteste aus dem Ausland gelenkt würden. Dieses Narrativ zieht aber nach über 30 Jahren im Jahr 2025 endlich nicht mehr. Zudem sind die beiden auch noch Kinder serbischer Flüchtlinge aus Kroatien, geboren Jahre nach dem Krieg – die gesamte Aktion war eher ein Bumerang. Der Ombudsmann (der Beschützer der Bürger, eine unabhängige staatliche Behörde in Serbien, die für die Untersuchung und Bearbeitung von Beschwerden von Bürgern gegen andere staatliche Einrichtungen zuständig ist) erklärte umgehend öffentlich, er sei nicht zuständig – und zeigte einmal mehr, was State Capture in der Praxis bedeutet. Und die serbische Internetcommunity erinnert die Öffentlichkeit daran, dass sogar der Patriarch der Serbischen Orthodoxen Kirche einen kroatischen Pass besitzt, womit die gesamte Farce wunderbar abgerundet wird.
Die studentischen Blockaden in Serbien werden mit großer Anteilnahme und Solidarität in der gesamten Region verfolgt.
Diese regionale Dimension verdient besondere Aufmerksamkeit. Die studentischen Blockaden in Serbien werden mit großer Anteilnahme und Solidarität in der gesamten Region verfolgt. Von Ljubljana bis Skopje, quer durch Kroatien und Bosnien, organisieren Studierende Solidaritätsaktionen. Die junge Generation erweist sich als bemerkenswert weise und weitgehend immun gegen die giftigen nationalistischen Narrative der Vergangenheit. Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarstaaten können sich nicht nur mit den Forderungen, sondern auch mit dem Gefühl der allgemeinen Machtlosigkeit identifizieren.
Erst wenige Tage vor der Tragödie von Novi Sad starben in Bosnien und Herzegowina 19 Menschen bei einem Unglück in einem seit zwei Jahrzehnten illegal betriebenen Steinbruch – ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen worden wäre. Am Neujahrstag erschütterte Montenegro erneut eine Massenschießerei, bei der zwölf Menschen ihr Leben verloren. Diese Tragödie weckte auch in Serbien schmerzhafte Erinnerungen an die beiden Amokläufe im Mai 2023, bei dem 19 Menschen, vor allem Kinder, getötet wurden. Die Region teilt Trauertage und Schweigeminuten häufiger, als es zu ertragen ist.
In Serbien spitzt sich die politische Krise weiter zu. Die altbewährten Einschüchterungsmethoden der Regierung haben an Wirkung verloren – die Angst ist verflogen. Nationalismus und regionale Destabilisierung greifen nicht mehr und scheinen ins Leere zu laufen. Neu im Repertoire der Regierung sind wirtschaftliche Schreckensszenarien, die Recht und Ordnung erzwingen sollen. Das steht im Widerspruch zur jüngsten Staatspropaganda, die Serbien noch als „ökonomischen Tiger“ und stolzen Gastgeber der EXPO 2027 – der nächsten großen Korruptionsparty – gepriesen hat.
Die Rufe nach einem Generalstreik werden immer lauter und könnten bald die gesamte Gesellschaft mobilisieren.
Neuwahlen würden unter den aktuellen Umständen nichts ändern, da die Wahlen seit Jahren weder frei noch demokratisch sind. Ende 2023 konnten internationale Beobachter die vielschichtige Wahlbetrugsmaschinerie erstmals umfassend dokumentieren. Das Land brodelt. Die offen zur Schau gestellte Unzufriedenheit und die immer unerträglicheren Realitätsverzerrungen der Regierung erreichen nun auch kleinere Ortschaften. Als sich Gymnasiasten und Mittelschüler den Protesten der Studierenden anschlossen, wurden die Winterferien kurzerhand vorverlegt – doch viele Schülerinnen und Schüler boykottierten die Ferien als Akt des Widerstands. Immer mehr Gewerkschaften und Berufsverbände schließen sich den Forderungen an. Die Rufe nach einem Generalstreik werden immer lauter und könnten bald die gesamte Gesellschaft mobilisieren.
Systemische politische Korruption und der Zustand eines gekaperten Staates sind das eine – das immer häufiger und offensichtlicher zutage tretende Staatsversagen ist etwas ganz anderes. In diesem Fall gibt es dann auch keine – auf Kosten der Demokratie erhoffte – Stabilität. Bürgerinnen und Bürger auf dem gesamten Balkan, ob jung oder alt, haben dies längst erkannt. Die Frage ist, wie lange internationale Partner noch brauchen werden, um diese Realität zu begreifen. Die Hoffnung auf eine andere, bessere Gesellschaft ist geweckt, und die Menschen beginnen wieder, frei durchzuatmen. Dieser frische Wind des Wandels ist den Studierenden zu verdanken, die den Funken der Veränderung entzündet haben.
Aleksandra Tomanić ist seit 2019 die Geschäftsführerin des European Fund for the Balkans (EFB). Im Februar 2024 wurde sie in den Vorstand der Deutschen Südosteuropa-Gesellschaft (SOG) gewählt. Zuvor war sie als Senior-Beraterin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) für die deutsch-serbische Initiative für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung zuständig.
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