Politik: Realitätscheck

Eine Mehrheit in Großbritannien wünscht sich die Rückkehr in die EU. Kann das Land die tiefen Narben des Brexits überwinden?

Rejoin: Nicht alle Britinnen und Briten geben sich mit dem Austritt aus der EU zufrieden.

Es gibt auch noch gute Nachrichten: Seit zwei Jahren zeigt jede einzelne Umfrage im Vereinigten Königreich, dass die Mehrheit der Bevölkerung in die EU zurückkehren möchte. Das ist auch verständlich, da verlässliche Quellen den anhaltenden Schaden aufzeigen, den der Brexit in fast allen Bereichen angerichtet hat. Weit und breit keine Spur von den versprochenen „Brexit-Vorteilen“. Und was die wiedergewonnene Souveränität betrifft? Man kann sie weder sehen noch anfassen noch essen, aber der Verlust an Einfluss sowohl auf der anderen Seite des Ärmelkanals als auch auf der anderen Seite des Atlantiks ist selbst für Brexit-Befürworter schwer zu ignorieren. Die Einwanderung, der eigentliche Grund für die damalige Abstimmung, hat zugenommen, wobei Europäer das Land verlassen, aber die Zahl der Migranten aus fernen Ländern steigt. War das die Idee?
Trotz der vehement pro-Brexit eingestellten britischen Medien können nur wenige Wähler die wahren Auswirkungen dessen, wofür sie gestimmt haben, ignorieren: 27 Milliarden Pfund sind in den ersten zwei Jahren im EU-Handel verloren gegangen. Die britischen Warenexporte sind jährlich um 6,4 Prozent zurückgegangen, und 40 000 Finanzjobs in der City sind in die EU abgewandert. Die britischen Lebensmittelexporte in die EU sind laut dem Centre for Inclusive Trade Policy  um drei Milliarden Pfund pro Jahr zurückgegangen. Der Brexit kostet das Vereinigte Königreich eine Million Pfund pro Stunde, so das Office for National Statistics. Das Office of Budget Responsibility sagt, dass das BIP fünf Prozent höher wäre, wenn Großbritannien in der EU geblieben wäre. Diejenigen, die keine Wirtschaftsnachrichten lesen, haben vielleicht bemerkt, dass die Handelsbarrieren des Brexit jeden Haushalt 210 Pfund zusätzlich für Lebensmittel kosten. An der EU-Außengrenze stehen die Briten häufig in langen Schlangen, während die EU-Bürger durchgewunken werden – ein Privileg, das die Briten selbst vor dem Brexit noch genossen haben.

Wir haben nun eine Regierung und ein Unterhaus, die überwiegend aus EU-Befürwortern bestehen. Wäre es da nicht an der Zeit, wieder in Richtung Calais zu steuern? Umso erstaunlicher wirkt es, dass der Premierminister, ein überzeugter EU-Befürworter, jegliche Diskussion über einen Wiedereintritt kategorisch ablehnt – sei es in die EU, die Zollunion, den Binnenmarkt oder sogar die Europäische Freihandelsassoziation. Warum dieser Widerstand?

Britische Politiker haben aus der Vergangenheit gelernt und scheuen sich, unseren unbeständigen und wankelmütigen Wählern erneut zu vertrauen. Diese Vorsicht ist das Ergebnis bitterer Erfahrungen und einer eindrücklichen Lektion. Der Optimismus, der Pro-Europäer dazu verleitet, sich über jede hoffnungsvolle Meinungsumfrage zu freuen, hat sich bereits als trügerisch erwiesen. Genau dieser Optimismus veranlasste David Cameron, das verhängnisvolle Brexit-Referendum auszurufen – im Glauben, er könne Remain problemlos gegen Leave durchsetzen. Dabei unterschätzte er die Gegenseite, die er abfällig als „Spinner, Verrückte und verkappte Rassisten“ abtat.

Wenn es zu einem weiteren Referendum käme, um das letzte rückgängig zu machen, würden dieselben rechten Medienmogule wie Rupert Murdoch, dessen Medienimperium 40 Prozent der britischen Presseleserschaft erreicht, ihre Propagandamaschinen erneut anwerfen. Doch die Ausgangslage wäre dieses Mal noch schwieriger: Großbritannien hat seinen lukrativen EU-Rabatt und andere ausgehandelte Sonderregelungen längst verloren. Ein erneuter Beitritt würde wahrscheinlich bedeuten, das Pfund aufzugeben und dem Euro beizutreten – zusammen mit weiteren Bedingungen, die von Brexit-Befürwortern als Unterwerfung unter ein vermeintliches Brüsseler Diktat inszeniert würden. Angesichts solcher Umstände wäre es riskant, darauf zu vertrauen, dass die öffentliche Meinung stabil bleibt. Referenden fördern die niedrigsten politischen Instinkte und spalten die Gesellschaft, anstatt Lösungen herbeizuführen. Diese Form der Entscheidungsfindung hat sich als destruktiv erwiesen – und sollte nie wieder zum Einsatz kommen.

Statt einen radikalen Kurswechsel zu riskieren, tastet sich die britische Regierung vorsichtig und schrittweise an einen „Neustart“ mit der EU heran – still und leise, da jeder Fortschritt von den Tory-nahen Medien reflexartig als „Brexit-Verrat“ gebrandmarkt wird. Rachel Reeves, Schatzkanzlerin und die erste Ministerin seit dem Brexit, die an einem Treffen der EU-Finanzminister teilnahm, stellte dort klar: „Spaltung und Chaos prägten den Umgang der letzten Regierung mit Europa. Das wird unsere nicht bestimmen. Wir streben eine Beziehung an, die auf Vertrauen, gegenseitigem Respekt und Pragmatismus beruht – eine reife, geschäftsmäßige Partnerschaft …“

Die Befürworter eines Verbleibs in der EU haben erneut große Hoffnungen geschürt.

Hinter den Kulissen sprechen Abgesandte über das Wesentliche: So stattete der Stabschef von Keir Starmer Brüssel vor Weihnachten einen diskreten Besuch ab, um zentrale Themen zu sondieren. Starmer selbst hat sich in seiner Amtszeit bereits sieben Mal mit Präsident Macron getroffen – zuletzt bei einem Abendessen in Chequers, dem offiziellen Landsitz des Premierministers. Dort sprachen sie über die Ukraine, Wirtschaftswachstum, Verteidigung, Energie und natürlich über die Zukunft der britisch-europäischen Beziehungen. Die Zeichen deuten auf einen behutsamen, aber strategischen Neustart zwischen Großbritannien und der EU hin.

Die Befürworter eines Verbleibs in der EU haben erneut große Hoffnungen geschürt – geprägt von einer optimistischen Voreingenommenheit. Doch der angestrebte Neustart könnte enttäuschen, wenn Keir Starmer nicht bereit ist, seine strikten roten Linien zu überdenken. Brüssel hat zu Recht deutlich gemacht, dass es keine Rosinenpickerei im Binnenmarkt geben kann, solange Großbritannien sich weigert, ihm wieder beizutreten.

Das Vereinigte Königreich fordert den Abbau von Handelsbarrieren, eine Erleichterung des Handels – insbesondere im Lebensmittelsektor –, die gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen und die Möglichkeit für Musiker, frei in der EU aufzutreten. Doch die Antworten aus Brüssel sind bislang wenig ermutigend: Ein klares „Nein“, solange Großbritannien nicht bereit ist, auch Forderungen der EU zu erfüllen. Dazu gehören unter anderem gleiche Studiengebühren für EU-Studenten an britischen Universitäten, wie sie für britische Studierende gelten, sowie ein Jugendmobilitätsprogramm, das jungen Menschen unter 30 Jahren freies Reisen und Arbeiten ermöglicht. Auf der anderen Seite kommt auch aus London auf diese Vorschläge bislang ein ebenso klares „Nein“. Die Frage bleibt: Warum?

Eventuell ist Starmer zu sehr darauf bedacht, Anschuldigungen des „Brexit-Verrats“ zu vermeiden. Doch solche Vorwürfe sollten ihn nicht von pragmatischen Entscheidungen abhalten, zumal das vorgeschlagene Jugendmobilitätsprogramm in Umfragen breite Unterstützung bei der britischen Bevölkerung findet. Weitere Hindernisse sind die anstehenden Verhandlungen über Fischereirechte. Obwohl diese wirtschaftlich für beide Seiten kaum bedeutend sind, lösen sie auf beiden Seiten des Ärmelkanals starke politische Emotionen aus. Ähnlich verhält es sich mit Streitigkeiten in der Landwirtschaft, die ebenfalls überproportional hohe Aufmerksamkeit erhalten.

Aber lassen Sie uns innehalten. Diese scheinbar trivialen Probleme verblassen angesichts des gefährlichen Zustands der Welt, der sich vor unseren Augen entfaltet. Donald Trump droht mit düsteren Szenarien, auch wenn niemand genau weiß, was er genau umsetzen wird. Die Wirtschaft der Eurozone schwankt, ebenso wie die Großbritanniens. Elon Musks gigantisches Vermögen stellt eine Bedrohung für europäische Demokratien dar und stärkt die aufziehenden Sturmwolken der extremen Rechten. Sollte Putin in der Ukraine auch nur ansatzweise einen Sieg erringen, geriete Europa in ernste Gefahr – und die Zukunft der NATO wäre ungewiss. Gleichzeitig befinden sich Deutschland und Frankreich in politischem Aufruhr. Hinzu kommt die Klimakrise: Der Planet hat vergangene Woche die gefährliche 1,5-Grad-Marke erreicht – die Erwärmung in diesem Ausmaß zu verhindern, hatten wir uns einst verpflichtet.

Dies ist keine Zeit für Zwist oder Zögern – es ist die Stunde der Einigkeit unter den Europäern, die um die Demokratie bangen und verstehen, dass sie nur gemeinsam den Bedrohungen der Trump-Ära entgegentreten können. Die Sozialdemokraten haben sich bisher oft zurückgehalten, doch damit muss jetzt Schluss sein.

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.

Polly Toynbee (Mary Louisa Toynbee) ist Journalistin und Kolumnistin für den Guardian sowie Buchautorin. Sie arbeitete als Redakteurin für Sozialpolitik bei der BBC, war Kolumnistin und Associate Editor des Independent sowie Co-Editor des Washington Monthly und schrieb für den Observer Reportagen und Features.

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