Politik: Ohne Netz und doppelten Boden
Macron geht mit der Ankündigung von Neuwahlen voll ins Risiko. Doch seine Überrumpelungstaktik könnte sich als gewaltiger Fehler erweisen.
Seit der Europawahl gehen die Uhren in Frankreich anders. Mehr als ein Drittel der französischen Wählerinnen und Wähler hat eine rechtsextreme Partei gewählt. Präsident Emmanuel Macron löste daraufhin kurzerhand das Parlament auf, denn seine zentristische Partei Renaissance und ihre Verbündeten mussten mit 14,6 Prozent eine schwere, ja vernichtende Niederlage einstecken. Knapp eine Stunde nach Schließung der Wahllokale am Sonntag verkündete Macron Neuwahlen, angesetzt für den 30. Juni und die zweite Runde für den 7. Juli. „Der Aufstieg der Nationalisten, der Demagogen, ist eine Gefahr für Frankreich“, erklärte Macron in seiner dramatisch inszenierten Fernsehansprache. Nun könnte ausgerechnet er es sein, der ihnen die Türen zur Macht öffnet.
Für die Sinnsuche – für die Beantwortung der Frage, ob der Präsident verrückt sei, ein Zocker, ein genialer Stratege? – bleibt keine Zeit. Denn für den Kampf gegen die Welle des Rechtsextremismus, für den die demokratischen Parteien glaubten, Zeit bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2027 zu haben, bleiben nun 20 Tage. Was auch immer Macron vorhat: Der französischen Demokratie mutet er einen Risikoakt ohne Netz und doppelten Boden zu. Vor ihm hatte Präsident Jacques Chirac in einer ähnlichen Kamikaze-Entscheidung 1997 das Parlament aufgelöst. Damals ging es für den Gaullisten schief. Er musste mit einer sozialistischen Regierung unter Lionel Jospin in Cohabitation leben.
Am Wahlabend hatte Macron kaum jemanden in seine Entscheidung eingeweiht. Nicht einmal seinen dynamischen Premierminister Gabriel Attal, den er noch kurz zuvor in den immer schriller werdenden Wahlkampf gejagt hatte. Seine Minister und Abgeordneten wurden am Montag streng gebrieft. Auf keinen Fall dürfen sie sagen, dass der Präsident vorhabe, den Rassemblement National in einer neuen Cohabitation aufzureiben, dass er die Partei von Marine Le Pen auf dem Gipfel der Macht vorzuführen gedenke, sie ausbluten lassen wolle.
Macrons Idee einer Koalition von Renaissance und Republicains, um seine Ränge zu stärken, ist bereits am Montag nach der Wahl gescheitert.
Die Verfassung erlaubt es einem französischen Präsidenten, den Premier und seine Regierung auf vielfältige Weise auflaufen zu lassen. Damit würde Macron sich zum alleinigen Kämpfer gegen die siegessicheren Rechtsextremen aufschwingen. Der General, der die Heerscharen des Bösen vernichtet. „So läuft es im echten Leben aber nicht“, kommentierte ein Talkshow-Gast und Anhänger der Partei Les Republicains. Um sie hatte Macron in den letzten Wochen immer wieder geworben. Seine Idee einer Koalition von Renaissance und Republicains, um seine Ränge zu stärken, ist jedoch bereits am Montag nach der Wahl gescheitert. Die erzkonservativen Republikaner wollen einfach nicht mit ihm arbeiten.
Macron könnte sich auch im Hinblick auf die französische Linke irren. Sein Coup am Sonntagabend hatte – wohl eher nicht zufällig – den Nebeneffekt, die Wahlparty der Sozialisten zu vermasseln. Ihr Kandidat Raphael Glucksmann erzielte mit 13,8 Prozent ein sehr gutes Ergebnis und katapultierte die bislang glücklosen Sozialisten auf den dritten Platz hinter RN und Renaissance. Noch während Glucksmann am Wahlabend im TV – selbstsicher und rhetorisch noch im Wahlkampfmodus verhaftet – gegen eine neuerliche Zusammenarbeit mit der linkspopulistischen La France Insoumise wetterte, hatte Macron mit seiner Ankündigung die Karten neu gemischt.
Eine zersplitterte Linke würde seine Pläne nicht durchkreuzen, so wohl das Kalkül von Macron. Doch auch hier läuft im Leben nicht immer alles nach Plan. Die Serie an Überraschungen, die Paris mit aufgerissenen Augen und blanken Nerven seit Sonntag verfolgt, setzte sich am Montag fort. Am späten Abend verkündeten die Vertreter und Repräsentantinnen aller linker Parteien – also Sozialisten, La France Insoumise, die Kommunisten, die Grünen und einige andere –, eine front populaire, eine „Volksfront“, bilden zu wollen. Das hieße auch, dass sie in allen Wahlkreisen mit jeweils nur einer Kandidatin oder einem Kandidaten antreten wollen.
Es muss sie, die die letzten Monate in einem erbarmungslosen Wettstreit und gegenseitigen Beleidigungen ihre Kampagnen führten, viel Kraft gekostet haben, nun die Vernunft walten zu lassen. Der Begriff front populaire, den noch am Wahlabend der Insoumise-Abgeordnete Francois Ruffin in den sozialen Medien nutzte, um zur linken Allianz aufzurufen, verfängt. Das Wunder geschieht: Offenbar war es in wenigen Stunden gelungen, die ideologischen Gräben zu überwinden und die Trümmer der gescheiterten Vorgängerallianz, der Nupes, zusammenzukehren und einen Neustart zu verabreden.
Marion Maréchal plädiert nun medienwirksam für eine Allianz der beiden rechtsextremen Parteien.
Die Uhren rasen, die politischen Karten werden innerhalb von Stunden neu verteilt. Kameras verfolgen jede Autofahrt der führenden Politikerinnen und Entscheider. So auch den Besuch von Marion Maréchal bei ihrer Tante, Marine Le Pen. Die Nichte ist frisch gewählte Europaabgeordnete der rechtsextremistischen Anti-Europa-Partei Reconquete und plädiert nun medienwirksam für eine Allianz der beiden rechtsextremen Parteien und wirbt dazu noch um die Rechtspopulisten der Republicains.
In Frankreichs Zwei-Runden-Wahlsystem treten die beiden erfolgreichsten Kandidatinnen und Kandidaten eines Wahlkreises in einer Stichwahl gegeneinander an. Gemäß dem Ergebnis der Europawahlen vom Sonntag würde es dem Rassemblement – und erst recht den vereinigten Rechtsextremen – sicher gelingen, in nahezu jedem Wahlkreis in die zweite Runde zu kommen. Dagegen hilft nur, dass eine Allianz der Linksparteien oder besser noch eine Union der demokratischen Parteien in einer immer wieder angerufenen „republikanischen Front“ zusammensteht, um die extreme Rechte zu blockieren. Doch die Dynamiken in den über 570 Wahlkreisen Frankreichs sind vielfältig und könnten noch zahllose Überraschungen bieten. Nur Tage nachdem Präsident Macron die Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des D-Days und des erfolgreichen Kampfes gegen den Faschismus zelebriert hatte, könnte er nun die Weichen gestellt haben für die Wahl einer rechtsextremen Regierung.
Adrienne Woltersdorf leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris. Sie war Leiterin der Stabsstelle Kommunikation der FES und des Büros für Regionale Kooperation in Asien mit Sitz in Singapur sowie des FES-Büros in Afghanistan. Vorher hatte sie acht Jahre lang für die taz aus Washington und Berlin berichtet.
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