Politik: Im Würgegriff der Banden

Höhere Mordraten als Mexiko und Brasilien: Ecuador erlebt eine beispiellose Gewaltwelle. Die Regierung setzt auf massive Repression – und das Militär.

Ein maskierter Soldat mit einem Drogenfund

Der ecuadorianische Präsident Daniel Noboa erklärte Anfang des Jahres dem organisierten Verbrechen den Krieg: „Die Zeiten, in denen verurteilte Drogenhändler Killer angeheuert und verurteilte Straftäter aus dem Bereich der organisierten Kriminalität der Regierung vorgeschrieben haben, was sie zu tun hat, sind vorbei.“ Wenn dem Militär freie Hand gelassen wurde, ist das allerdings noch nie gut ausgegangen. Anders verhält es sich mit Präventionsprogrammen, Investitionen in Bildung sowie mit der Hinwendung des Staates zu gefährdeten und armen Gruppen der Bevölkerung. Diesen Ansatz sucht man jedoch in der Politik des seit November 2023 amtierenden Mitte-rechts-Politikers und Bananenunternehmers vergeblich. Stattdessen setzt er vor allem auf Repression durch Polizei und Militär.

Von Januar bis April befand sich Ecuador im Ausnahmezustand, den Noboa mit einem „bewaffneten internen Konflikt“ begründete. Der Ausnahmezustand ist seit dem 8. April zwar aufgehoben, aber aufgrund eines Präsidialdekrets dürfen uniformierte Sicherheitskräfte auf den Straßen und in den Gefängnissen Ecuadors im großen Stil eingesetzt werden. Aufgrund der dauerhaft verhängten Notstandsmaßnahmen, die der Regierung freie Hand lassen, entsteht der Eindruck, das Land drifte immer weiter in Richtung Autoritarismus ab.

Diese grobschlächtige Politik ist eine Reaktion auf den sich immer weiter ausbreitenden Drogenhandel und den Krieg zwischen den mehr als 22 kriminellen Banden, die von der Regierung in ihrem Dekret als „Terrororganisationen“ eingestuft wurden und die um die Kontrolle in Ecuador kämpfen. Insbesondere die Gefängnisse des Landes stehen seit einiger Zeit unter dem Kommando von Bandenchefs und werden von ihnen als Operationsbasis für ihre kriminellen Aktivitäten genutzt. Seit einigen Jahren arbeiten ausländische Drogenhändler aus Mexiko und Kolumbien zunehmend mit ecuadorianischen Banden wie Los Choneros zusammen und bauen ein mächtiges Drogenhandels- und Korruptionsnetz auf, das zum Teil bis in den Regierungsapparat hineinreicht. 2023 war mit über 7 000 Morden das blutigste Jahr in der Geschichte des Landes und übertraf sogar die Mordraten von Mexiko und Brasilien. Acht von zehn Tötungsdelikten wurden mit Schusswaffen begangen. Damit ist Ecuador eines der gewalttätigsten Länder nicht nur Lateinamerikas, sondern weltweit.

Noch vor zehn Jahren galt Ecuador als friedliches Land. Die heutige schlechte Sicherheitslage ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: Durch die im Jahr 2000 erfolgte Dollarisierung und die damit verbundene Erleichterung von Transaktionen wurde das Land für kriminelle Gruppierungen zum attraktiven Aktionsfeld für Geldwäsche. Zudem eignet sich Ecuador aufgrund seiner geografischen Lage bestens als Schmuggelroute: Es liegt neben Kolumbien, dem größten Kokainproduzenten der Welt, und hat einen Zugang zum Meer. Begünstigt durch die steigende Nachfrage nach Kokain in Europa und Asien wurde Ecuador schließlich zu einem zentralen Umschlagplatz für die Droge. Nach dem Friedensabkommen in Kolumbien und der anschließenden Demobilisierung der Guerilla ab 2016 bringen Drogenbanden und andere illegale bewaffnete Akteure die früher staatlich überwachte Grenze zwischen Ecuador und Kolumbien nach und nach unter ihre Kontrolle.

2023 war mit über 7 000 Morden das blutigste Jahr in der Geschichte des Landes.

Admiral Jaime Vela, Chef der Streitkräfte

Weitere Ursachen für die heutige Situation sind die Corona-Pandemie, die sozioökonomische Krise und die Spar- und Sicherheitspolitik von Noboas Vorgängern Lenín Moreno (2017-2021) und Guillermo Lasso (2021-2023). Moreno wandte sich von der linken Politik ab und führte Reformen ein, von denen US-amerikanische  Öl-Konzerne und der Internationale Währungsfonds profitierten. Umfangreiche Sparprogramme, Subventionskürzungen und die völlige Vernachlässigung der Infrastruktur waren die Folge. Das für die Haftanstalten zuständige Justizministerium, das Ministerium für Sicherheitskoordination und der Nationale Rat für Betäubungsmittelkontrolle wurden abgeschafft, um das Haushaltsdefizit abzubauen. Zugleich setzte Moreno in Sicherheitsfragen mehr und mehr auf die Unterstützung durch die USA.

Der ehemalige Banker Guillermo Lasso trieb unterdessen das neoliberale Wirtschaftsmodell seines Vorgängers voran und bewirkte damit eine Verschlechterung der Lebens-, Sozial- und Arbeitsbedingungen für die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung. So kam es, dass Noboa bei seinem Amtsantritt ein Land mit einem Haushaltsdefizit von weit über drei Milliarden  US-Dollar und einer Auslandsverschuldung in Höhe von über 60 Prozent des ecuadorianischen Bruttoinlandsprodukts übernahm.

Die jüngste Militarisierung Ecuadors gründet auf drei entscheidenden Ereignissen: Erstens wurde im August 2023 der Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio ermordet, der in seiner Wahlkampagne der Korruption und der Kriminalität den Kampf angesagt hatte. Zweitens nahmen Anfang 2024 Mitglieder der Bande Los Tiguerones Journalisten als Geiseln und übertrugen die Entführung live. Drittens entkam Adolfo Macías, einer der gewalttätigsten und mächtigsten Bandenführer des Landes, aus einer Haftanstalt im Süden Ecuadors und führte dem Staat damit vor Augen, dass dieser nicht mehr Herr über die Gefängnisse war.

Daraufhin wählte Präsident Noboa, der bereits im Wahlkampf angekündigt hatte, er werde gegen die Banden vorgehen, eine schnelle Lösung: die landesweite Mobilisierung der Militärs. Er verhängte den Ausnahmezustand und schränkte unter anderem die Bewegungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Versammlungsfreiheit massiv ein. Die Justiz arbeitet allem Anschein nach Hand in Hand mit der Regierung, denn das Verfassungsgericht bestätigte einstimmig die Rechtmäßigkeit des Ausnahmezustands als Mittel im Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Einen neuen Höhepunkt erreichten die operativen Einsätze des Militärs, als im April staatliche Sicherheitskräfte die mexikanische Botschaft in Ecuador stürmten und den ehemaligen Vizepräsidenten Jorge Glas verhafteten, der vom ecuadorianischen Staat wegen Korruption verurteilt worden war und in der Botschaft Zuflucht gefunden hatte.

Die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung hat nichts gegen Noboas neuen, kompromisslosen und militärischen Kurs einzuwenden.

Die Regierung behauptet, der Staat habe die Gefängnisse wieder unter seine Kontrolle gebracht und die Operationen hätten dazu beigetragen, die Zahl der Morde pro Tag von 24 auf 12 Tote zu senken. Fast 12 000 Personen wurden verhaftet, 3 300 Waffen und 64,3 Tonnen Drogen beschlagnahmt. Seit die staatlichen Sicherheitskräfte auf den Straßen die Macht übernommen haben, wird allerdings vermehrt über Menschenrechtsverletzungen, Folter in Gefängnissen und Morde an unbeteiligten Zivilisten berichtet. Menschenrechtsorganisationen kritisieren außerdem die Aushöhlung von Rechten und prangern an, dass Bürger ohne rechtliche Grundlage inhaftiert und grausam behandelt würden.

Zu den meisten Vorwürfen schweigt die Regierung. Als sich erste Kritiker zu Wort meldeten, erklärte der Präsident öffentlich, man werde „nicht zulassen, dass Vaterlandsfeinde sich hinstellen und uns vorhalten, wir würden die Rechte von irgendjemandem verletzen, während wir in Wahrheit die Rechte der großen Mehrheit verteidigen“. Die Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung hat nichts gegen Noboas neuen, kompromisslosen und militärischen Kurs einzuwenden und scheint ihn sogar zu unterstützen. Ende April stimmten die Bürgerinnen und Bürger Ecuadors in einem Referendum dafür, dass die harte Gangart beibehalten werden solle und dass der Präsident das Militär auch ohne Ausnahmezustand im eigenen Land einsetzen dürfen solle. Unverhältnismäßig oft werden marginalisierte Gruppen zur Zielscheibe der Militäreinsätze. Denn die organisierte Kriminalität spielt sich häufig im Umfeld von Stadtvierteln ab, die vom Staat ignoriert oder vergessen wurden – oder in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass in Lateinamerika eine erhöhte Präsenz der Militärs und die Verhängung von „Ausnahmezuständen“ durch die Hintertür häufig dazu führen, dass Macht missbraucht sowie Recht und Demokratie ausgehöhlt werden. Einige Staaten haben sich zu autoritären Regimen gewandelt – und zwar zunächst unter dem Vorwand, für mehr Sicherheit zu sorgen. Dies wurde zum Nährboden für grobe Menschenrechtsverletzungen: Es kam zu außergerichtlichen Tötungen, Menschen verschwanden und wurden gefoltert. Beispiele sind das Verschwinden von 43 Studenten aus dem mexikanischen Ayotzinapa im Jahr 2014 oder der kolumbianische Falsos Positivos-Skandal. Dabei hatten staatliche Einsatzkräfte unschuldige junge Studierende zunächst getötet und anschließend als Guerillas eingekleidet, um Militäroperationen zu legitimieren, die Zahl der kämpfenden Rebellen höher erscheinen zu lassen und Kopfgelder für die Tötungen zu kassieren.

Die Präsenz von Militärs mag der Bevölkerung vorübergehend ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, ist aber keine wirksame Langzeitstrategie. Besser wäre es, in ein umfassendes Sicherheitsprogramm zu investieren, das die Ursachen der Kriminalität wie Armut, Arbeitslosigkeit, die große soziale Ungleichheit und die Hoffnungslosigkeit der Jugend an der Wurzel packt und den jungen Menschen in Ecuador Chancen und Bildungsmöglichkeiten bietet. Statt die Symptome mit staatlicher Gewalt und militärischer Repression zu bekämpfen, sollte der Staat den Fokus auf nachhaltige Lösungen richten. Das aber scheint der derzeitige ecuadorianische Präsident noch nicht recht verstanden zu haben.

Aus dem Englischen von Christine Hardung

Sara Meyer arbeitet als Lateinamerika-Korrespondentin mit Schwerpunkt auf Menschenrechten sowie sozialen und politischen Themen.

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