Politik: Baumarkt schlägt Hightech

Der Ukraine-Krieg zeigt: Entscheidend ist nicht die modernste Ausrüstung, sondern die Fähigkeit, sich schnell an neue Bedingungen anzupassen.

Ukrainische Soldaten steuern Drohnen

Wenn wir über die Zukunft der Kriegsführung nachdenken, ist es verlockend, sich eine Welt vorzustellen, die von fortschrittlichen Technologien beherrscht wird: von KI-gesteuerten Drohnen, Hyperschallraketen und Satelliten, die jede Bewegung koordinieren. Doch der Krieg in der Ukraine hat gezeigt, dass sich mit Hightech-Fähigkeiten allein keine Kriege gewinnen lassen. Der Sieg hängt auch von Lowtech-Lösungen ab – und davon, dass man beide schnell und kostengünstig integriert.

Die westlichen Mächte sind lange Zeit davon ausgegangen, dass ihr technologischer Vorsprung den Sieg in jedem künftigen Konflikt garantieren werde. Die Argumentation ist einfach: Wer intelligentere, schnellere und präzisere Waffen hat, gewinnt. Doch der Ukraine-Krieg hat die Grenzen dieses Denkens aufgezeigt. Hightech-Systeme können zwar verheerend wirksam sein, bieten aber oft nur einen vorübergehenden strategischen Vorteil. „Dumme“ Technik – einfach, billig und weithin verfügbar – ist genauso wichtig.

Drohnen sind ein Paradebeispiel dafür. Cruise Missiles mögen technologische Wunderwerke sein, aber in der Ukraine machen Schwärme von preiswerten kommerziellen Drohnen Schlagzeilen. Dies zeigte sich diesen Monat bei der „Operation Spinnennetz“, bei der die Ukraine technisch simple FVP-Drohnen einsetzte, um russische Flugzeuge im Milliardenwert zu zerstören.

Handelsübliche Quadrocopter haben Aufklärung, Zielansprache und sogar direkte Angriffe verändert. Ihre Effektivität beruht nicht auf hochmodernen Komponenten, sondern auf der schieren Menge, den niedrigen Kosten und dem Einfallsreichtum Tausender Innovatoren, die die Produktion schnell skalieren und modifizieren können. Jedes Mal, wenn Russland neue Gegenmaßnahmen einführt, entstehen neue Drohnenvarianten – ein kontinuierlicher Innovationszyklus, der die Effektivität der Drohnen aufrechterhält.

Drohnen sind bei Weitem nicht das einzige Beispiel. Um sich gegen Drohnenangriffe zu schützen, stützen sich die Militärs beider Seiten auch auf jahrzehntealte Panzer, im Internet gekaufte gebrauchte Pickups, Motorräder, Motorroller und über Straßen gespannte Fischernetze – eine ausgesprochene Lowtech-Lösung, die als „Anti-Drohnen-Tunnel“ bekannt ist. Von gewöhnlichem Gartenzaun kaum unterscheidbarer Maschendraht wird als „Käfigpanzerung“ zum Schutz vor gelenkten Panzerabwehrraketen auf Panzern angebracht. Selbst sechs Millionen Dollar teure Leopard-Panzer benötigen noch immer einen in ukrainischen Garagen gebauten behelfsmäßigen Käfig, um sich gegen Drohnen zu schützen, die kaum mehr kosten als der selbstgebastelte Käfig.

Die Fähigkeit, das Schlachtfeld mit einfachen, praktischen Werkzeugen zu überschwemmen, kann selbst fortschrittlichste Verteidigungssysteme überwältigen.

In dieser neuen Realität sind nicht die Militärs mit der besten Ausrüstung am erfolgreichsten, sondern diejenigen, die sich schnell an Innovationen anpassen und fortschrittliche Technologien mit allem kombinieren, was in großen Mengen in Bauernscheunen, Baumärkten oder bei Gebrauchtwagenhändlern zu finden ist.

Drohnenpilot im Ukrainekrieg

Die Ukraine ist ein typisches Beispiel dafür. Als Russland begann, Funkdrohnen durch elektronische Kriegsführung zu stören, reagierten die ukrainischen Soldaten, indem sie die Drohnen an Glasfaserkabeln befestigten – ein technisch einfacher, wenig glamouröser, aber hocheffektiver Behelf.

Durch bescheidene Upgrades bestehender Waffen haben die Streitkräfte diese weitaus zerstörerischer gemacht als ihre Hightech-Gegenstücke. In vielen Gefechten haben diese „aufgerüsteten“ Waffen mehr Schaden angerichtet als eine Handvoll präzisionsgelenkter Raketen. Gleitbomben zum Beispiel sind einfache, „dumme“ Bomben, die mit Flossen und Lenkvorrichtungen nachgerüstet wurden. Sie sehen vielleicht nicht futuristisch aus, aber sie haben die Dynamik auf dem Schlachtfeld erheblich zu Gunsten Russlands verändert.

In ähnlicher Weise können eine Million Lowtech-Drohnen manchmal mehr bewirken als 1 000 Hightech-Drohnen, vor allem wenn intelligentere Systeme rar, teuer und langwierig in der Produktion sind. Die Fähigkeit, das Schlachtfeld mit einfachen, praktischen Werkzeugen zu überschwemmen, kann selbst fortschrittlichste Verteidigungssysteme überwältigen. Ein 50 Jahre alter sowjetischer Panzer oder ein Toyota-Pickup, der innerhalb von fünf Tagen an die Front gebracht werden kann, ist oft nützlicher als ein mit neuester Technologie ausgestatteter Kampfpanzer, dessen Auslieferung zwei Jahre auf sich warten lässt.

Das soll nicht heißen, dass Hightech keine Rolle spielt oder dass Regierungen nicht mehr in Forschung und Entwicklung investieren sollten. Gegen weniger leistungsfähige Gegner können modernste Waffen einen entscheidenden Vorteil bieten. Aber wenn man es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun hat, hängt der Erfolg von Anpassungsfähigkeit, kreativem Denken und verlässlichen Versorgungslinien ab.

Die Herausforderung für den Westen, insbesondere bei der Wiederbewaffnung Europas, besteht darin, neu zu durchdenken, worum es bei Innovation wirklich geht. Statt nur den fortschrittlichsten Lösungen hinterherzujagen, müssen die Regierungen diejenigen finden, die in großem Maßstab produziert, schnell eingesetzt und in kürzester Zeit modifiziert werden können. Dies erfordert sowohl Anpassungsfähigkeit als auch das Vorhalten großer Bestände an bewährter, zuverlässiger Ausrüstung, während gleichzeitig Systeme der nächsten Generation entwickelt werden. Ebenso wichtig ist es, den Truppen vor Ort die Möglichkeit zu geben, die Initiative zu ergreifen – ein Markenzeichen effektiver Streitkräfte von den USA über Israel bis hin zur Ukraine.

Es ist angesichts wachsender Verteidigungshaushalte in ganz Europa wichtig, sich nicht auf vergangene Ausgabenmuster zu verlassen.

Es ist angesichts wachsender Verteidigungshaushalte in ganz Europa wichtig, sich nicht auf vergangene Ausgabenmuster zu verlassen. Investitionen in modernste militärische Ausrüstung müssen mit größerer Flexibilität und schnellerer Entscheidungsfindung einhergehen. Über Forschung und Entwicklung hinaus brauchen die Regierungen Beschaffungsprozesse, die schnell auf Innovationen auf dem Schlachtfeld reagieren können.

Zu diesem Zweck sollten die europäischen Regierungen 10 bis 15 Prozent ihrer Verteidigungshaushalte für neue Technologien bereitstellen. Sie müssen dem Drang widerstehen, jeden Euro im Voraus zuzuteilen, und sich stattdessen die finanzielle Flexibilität bewahren, die mit kreativem Denken auf und neben dem Schlachtfeld einhergehen muss.

Neben einer intelligenteren Budgetierung müssen auch die Beschaffungsprozesse überarbeitet werden, um die schnellere Einführung neuer Technologien zu ermöglichen. Die traditionellen, langsam arbeitenden Systeme der westlichen Streitkräfte sind nicht für eine Zeit geeignet, in der der Sieg vom Tempo der Anpassung abhängen kann.

Die europäischen Regierungen sollten die Einführung alternativer Vergabeverfahren in Betracht ziehen, die die Beschaffungsfristen erheblich verkürzen. So hat etwa die US Defense Innovation Unit die Beschaffung bei nicht-traditionellen Anbietern beschleunigt, indem sie Vereinbarungen über die Lieferung von Prototypen innerhalb von 60 Tagen vergeben hat, wobei die Projekte in 12 bis 24 Monaten abgeschlossen werden.

Zu guter Letzt müssen die westlichen Streitkräfte ihre Zusammenarbeit mit Technologie-Start-ups vertiefen. Ein großer Teil der Widerstandsfähigkeit der Ukraine ist jenen Hunderten kleiner Unternehmen zu verdanken, die das ukrainische Militär bei der Anpassung und Produktion von Panzerschutzkäfigen bis hin zu Gefechtsfeld-Kommunikationssystemen unterstützen. Der ukrainische Testdienst Iron Range, der neue Technologien zur Einsatzreife bringen soll, ist ein nützliches Modell für die Beschleunigung von Innovationen im Verteidigungsbereich.

Westliche Verteidigungseinrichtungen sollten sich ein Beispiel an der Ukraine nehmen und aktiv mit Partnern aus dem Privatsektor zusammenarbeiten, um die traditionellen Auftragnehmer zu ergänzen. In einem sich rasch weiterentwickelnden Gefechtsumfeld müssen die europäischen Streitkräfte starre bürokratische Zeitpläne und unflexible Mehrjahresbudgets durch flexiblere Systeme ersetzen, die in Echtzeit reagieren können.

© Project Syndicate

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Nicu Popescu ist Distinguished Fellow beim European Council on Foreign Relations. Er ist ehemaliger Vizepremierminister und ehemaliger Außenminister der Republik Moldau.

 

Giorgos Verdi ist Policy Fellow des European Council on Foreign Relations. Seine Forschung konzentriert sich auf die Auswirkungen kritischer und neuer Technologien auf die Wettbewerbsfähigkeit, die wirtschaftliche Sicherheit und die Außenpolitik der EU.

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