von Günter Müchler

Günter Müchler

Freunde stutzen, Gegner frotzeln, Europa wundert sich. Mit einem gewaltigen Ruck hat sich der schwere Tanker Bundesrepublik seiner Taue entledigt und steuert volle Kraft voraus durch raue See. Noch sieht es nach Schlingerkurs aus. Als erster Ballast über Bord gegangen ist deutsche Schuldenscheu. Ein Unfall? Wohin geht die Reise unter Kapitän Friedrich Merz? Was ist los in Berlin? Der Versuch einer Orientierung.

Irgendwann wird man erfahren, wann genau der CDU-Chef sich entschloss, „all in“ zu gehen. Vermutlich war die Verteidigung der Schuldenbremse den ganzen Wahlkampf über nichts anderes als ein Spiegelgefecht. Als dann die Zahlen vorlagen, fiel die Entscheidung: Wenn schon Wortbruch, dann aber richtig.

Wortbruch ist keine Kleinigkeit. In der Demokratie gibt es kaum ein hässlicheres Tatoo. Merz wird es nicht loswerden. Selbst wenn seine Regierungszeit einmal eine Erfolgsgeschichte genannt werden sollte, wird es noch immer heißen: Alles begann mit einem Wortbruch.

War der Wortbruch vermeidbar? Politik ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Rasch ist ramponiert, wer ausgetretene Pfade verlässt und Erwartungen enttäuscht. Aber handelt moralisch nur der, der ängstlich jeden Fehltritt zu vermeiden trachtet? Der auch in der Sackgasse stur geradeaus läuft? Als Gerhard Schröder am 22. Oktober 2002 im Amt als Bundeskanzler bestätigt wurde, hatten seine Wähler keine blasse Ahnung, dass er nicht einmal ein halbes Jahr später, am 14. März 2003, seine Agenda-Politik ankündigen würde. Sie brach so ziemlich mit allem, auf das man von einem in der Wolle gefärbten Sozialdemokraten gefasst war.

Schröder nahm das volle Risiko in Kauf. Seine Sozialreform ein ebenso notwendiger wie mutiger Schritt. Tatsächlich hörte Deutschland schon bald auf, der kranke Mann in Europa zu sein. Das hinderte die Funktionärskaste der SPD nicht daran, sich für die Hartz-Politik zu schämen und an dem herumzumäkeln, der sie eingebrockt hatte. Was dieselben Funktionäre wiederum nicht daran hinderte, später, im Tandem mit der CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die Zinsen der erfolgreichen Agenda 2010 zu verspeisen.

Wie die Sache für Merz ausgeht, wird man eines schönen Tages sehen. Klar aber ist: So wie in den Nullerjahren nur ein Sozialdemokrat die sozialpolitische Wende vollziehen konnte, so konnte jetzt nur ein Christdemokrat die Schuldenbremse liften. O tempora, o mores! Ja, in Zeiten wie diesen kann einem Hören und Sehen vergehen. Aber es bringt nichts, sich zu verkriechen oder wie ein Dackel den Mond anzubellen. Das Notwendige muss getan werden. Die Schuld von gestern erfordert die Schulden von heute.

Niemand kann behaupten, Merz habe in den letzten Wochen fehlerfrei agiert. Sein Vergnügen an schnörkelloser Aussage in allen Ehren. Mit „Scholzen“, mit der Vagheit des noch amtierenden Regierungschefs wäre er dann und wann besser gefahren. Letztendlich aber muss man anerkennen, dass sein Handeln in Form und Inhalt von extremen Umständen abhängig war und abhängig ist.

Extrem ist der Zeitdruck. Putins Krieg, Trumps Bedenkenloskeit und eine Weltordnung, die immer mehr aus den Fugen gerät, verlangt die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit in kürzester Zeit. Merz‘ Ansage, das Interregnum um Ostern zu Ende zu bringen, scheint aufzugehen. Der Schulterschluss mit der SPD ist vollzogen. Angst machen nur die vielen Menschen und die zahlreichen Arbeitsgruppen, die jetzt den Koalitionsvertrag ausverhandeln sollen. Ein Rückfall in die schreckliche parlamentsbürokratische Detailversessenheit wäre Machtvergessenheit und würde der schwarz-roten Koalition den Start gründlich verderben.

Höchster Zeitdruck stand auch hinter dem Durchpauken der neuen Kreditlinien. Bestnoten für Formvollendung waren hier nicht zu ernten. Dies sollten feinsinnige Kritiker bedenken: Ein Verschieben der Entscheidung auf den neuen Bundestag kam einfach nicht infrage. Sie hätte die Regierung zur Geisel von AfD und Linken gemacht und zu Freudentänzen im Kreml animiert.

Es war vorauszusehen, dass SPD und Grüne, die beiden großen Verlierer der Bundestagswahl, die Gunst der Stunde nutzen würden. Sie haben es in unterschiedlicher Weise getan. Die Sozialdemokraten, die im Umgang mit dem Geld der Steuerzahler noch nie kleinlich waren, geselltem dem Schuldentopf Verteidigung noch den Schuldentopf Infrastruktur hinzu. Die Grünen waren besonders geschickt. Sie holten schlanke 100 Milliarden für den Klimaschutz heraus und präsentierten sich darüber hinaus als neue Anwälte der Sparsamkeit. Als Teil der Ampel hat man sie anders in Erinnerung.

Man kann darüber streiten, ob die Schuldenaufnahme eine Nummer kleiner hätte ausfallen sollen. So oder so rechtfertigt sie sich nur im Erreichen der unterstellten Zwecke. Die Bundeswehr, die immer noch ziemlich „blank“ ist, muss planvoll aufgerüstet werden, d.h. in Abstimmung mit den europäischen Partnern, von denen erwartet wird, dass auch sie den Ohrensessel der „Friedensdividende“ verlassen. Die Einsicht, mehr für die Sicherheit tun zu müssen, hat in Europa ein Ost-West-Gefälle. Je weiter man von Russland entfernt ist, desto weniger ist von dieser Einsicht vorhanden.

Gelingen kann auch die Aufrüstung von Wirtschaft und Infrastruktur, allerdings nicht durch Subventionen, die unter der alten Regierung verschwenderisch ausgeschüttet wurden. Wenn die Steuereinnahmen steigen sollen, muss die Wirtschaft brummen. Sie brummt aber nur, wenn Investoren bei ihrer Planung nicht immer wieder von Querschlägern aus dem Konzept gebracht werden, wenn elementare Rahmenbedingungen (z.B. ein wettbewerbsfähiger Strompreis) garantiert werden und wenn der Staat, der den Rahmen setzt, aufhört, die Akteure durch erfindungsreiche Bestimmungen und Rechenschaftspflichten zu würgen.

Mehr Freiheit wagen, könnte das Motto einer unionsgeführten neuen Bundesregierung lauten. Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Leider hat man sich schon selbst den Schneid abgekauft. Wer neue Schulden in beispiellosem Umfang mit einer beispiellosen Notlage begründet, zugleich aber starrsinnig an Klientelversprechungen festhält wie vor allem die CSU es tut (Thema Mütterrente, Pendlerpauschale, Steuersenkungen für die Gastronomie), hat den Schuss nicht gehört und verspielt die Glaubwürdigkeit.

Das gilt auch für andere, zum Beispiel für die Gewerkschaften. Verdi beklagt im aktuellen Tarifstreit die angebliche Überbelastung der öffentlich Bediensteten durch Arbeitsverdichtung und Personalengpässe. Im selben Atemzug fordert die Gewerkschaft drei zusätzliche freie Tage! Sie sündigt damit nicht nur gegen den Verstand, sie handelt verantwortungslos.

An dem Fall wird offenbar, wie groß der Reformstau in Deutschland ist. Es geht nicht allein um Dinge, die durch Geld zu reparieren sind. Es geht auch um das Verändern von Einstellungen. Deutschland rangiert in puncto Arbeitsstunden am unteren Ende der europäischen Rangskale, in puncto Krankheitstagen dagegen im Spitzenfeld. Durch grenzenlose Empathie ist bei uns eine kollektive Wehleidigkeit herangezüchtet worden, die die Menschen nicht glücklicher macht und die sich Deutschland nicht länger leisten kann.

Die neue Regierung hat den Schlüssel zum Erfolg in der eigenen Hand. Sie kann aber auch ganz schnell scheitern: Wenn sie das Thema Sparen abhakt, nur weil genug (Schulden-) Geld in der Kasse ist. Wenn sie darauf verzichtet, Sozialleistungen und Subventionen auf den Prüfstand zu stellen. Und wenn sie den Menschen vorgaukelt, sie kämen aus der Krise heraus ohne Opfer und Anstrengungen. Die Notlage ist evident. Die Voraussetzungen für einen Aufbruch, der von der gesamten Bevölkerung getragen wird, sind eigentlich günstig. Jetzt kommt alles auf die politische Führungskraft an.

Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

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