Von Gisbert Kuhn

Autor Gisbert Kuhn

Manchmal macht es wirklich keine Freude, seinen Gedanken zum Geschehen in seiner Umwelt, seinem Land und in der Welt allgemein freien Lauf zu lassen. Immerhin (und wohl auch zum Glück) legen einem Erziehung, Anstand, Rücksichtnahme, Lebenserfahrung und noch manches mehr sprachliche Fesseln an und verbale Zurückhaltung auf. Denn eigentlich hat sich im Innern ein brodelndes Gemisch angestaut, das nach außen drängt. Und zwar am liebsten lautstark – Enttäuschung, Zorn und Empörung, gepaart mit Hilflosigkeit.

Gerade dieses Gefühl ist das schlimmste. Nämlich das Empfinden, einer Entwicklung mehr oder weniger hilflos ausgeliefert zu sein, in der Zug um Zug die elementarsten Grundregeln eines vernünftigen, friedlichen, auf gesellschaftlichen und sozialen Ausgleich bedachten Zusammenlebens der Menschen verloren gehen. Die Nachrichtensendungen im Fernsehen und Radio, die Schlagzeilen der Zeitungen – im Grunde der reinste Horror. Wie bizarr mutet heute, angesichts des Marschbefehls des Türkei-Diktators Erdogan auf syrisches Gebiet, der Satz an, den Goethe in seinem „Faust“ einst den deutschen Spießbürger in seinem bequemen Ohrensessel sagen ließ: „Nichts Bessres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch zu Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten – weit in der Türkei – die Völker aufeinander schlagen“.

Es ist wahr – es ist in der Geschichte nichts Neues, dass die Menschen von der Angst getrieben werden, womöglich nicht mehr Herren ihres Lebens und ihres Umfelds zu sein. Nicht ohne Grund, schließlich, legt Shakespeare seinem Hamlet die Klage in den Mund: „Die Zeit ist aus den Fugen geraten“. Das ist immerhin schon mehr als 300 Jahre her. Aber es lässt die aktuellen Vorgänge nicht weniger schlimm und gefährlich erscheinen. Ganz zuvorderst natürlich der Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle mit dem geplanten (glücklicherweise verhinderten) Massenmord an den dort versammelten Gläubigen. Es mag ja tatsächlich die Tat eines – von Hass und antisemitischen Vorurteilen getriebenen – Einzelnen gewesen sein. Aber die (fast erwartungsgemäß) sofort einsetzenden und vom selben rassistischen Gift träufelnden „Botschaften“ in den diversen elektronischen Medien beweisen, dass der Nährboden für derartiges Denken und Tun längst bereitet wurde.

In nicht wenigen Kommentaren selbst ernst zu nehmender  Zeitungen wird kritisiert, der so genannte „deutsche Schwur“ mit den zwei Worten „Nie wieder!“ sei von Politikern und anderen in der Öffentlichkeit stehenden Personen an bestimmten Mahn- und Gedenktagen nur noch mehr oder weniger gedankenlos heruntergebetet worden. Das mag für die jüngere Zeit zutreffen. Nicht jedoch für das Gros jener Deutschen, die bewusst die Kriegs- und/oder die Nachkriegsjahre erlebt haben. Für diese Generationen waren (und sind) die beiden Wörter mehr als nur ein bloßes Lippenbekenntnis zur Beruhigung des Auslands. Sie waren und sind noch immer zentraler Inhalt ihres (auch politischen) Denkens und gesellschaftlichen Handelns.

Aber nur eben, wie erwähnt, für das Gros – also die Mehrheit. Es war, leider, immer erkennbar, dass jenes fremdenfeindliche, übersteigert nationalistische, rassistische und – vor allem – antisemitische Gedankengut selbst durch die totale Niederlage Nazi-Deutschlands nicht vollends ausgerottet wurde. Wer ihm anhing, hat sich in den Jahren alliierter Besatzung bloß nicht getraut, sich laut zu äußern. Und, ja, derartiges Denken ist auch keineswegs auf Deutschland beschränkt. Und logisch, wenn Hetze gegen Kriegs- und Hungerflüchtlinge aus Belgien, Frankreich, Holland, Großbritannien und den skandinavischen Ländern herüberklingt, dann wird „man das doch schließlich auch hierzulande sagen dürfen“. Schließlich lebe man in einer Demokratie.

Ja, wir leben in einem demokratischen Staat, dem demokratischsten Deutschland, das es jemals in seiner Geschichte gegeben hat. Aber in diesem Land gab es auch Zeiten, in denen die frei gewählten Repräsentanten des Volkes, Politiker, Wirtschafter und die Führungen gesellschaftlicher Organisationen partei- und glaubensübergreifend der Maxime folgten „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“. Gilt das uneingeschränkt immer noch? Wir sind stolz darauf, in einem liberalen und toleranten Staat zu leben. Doch immer häufiger kommt es einem vor, dass hinter der vorgeblichen Liberalität und Toleranz in Wirklichkeit Ängstlichkeit, mangelnde eigene Standfestigkeit, fehlendes Wissen über das herrschen, was die westlichen „Werte“ ausmacht und auf welchen Fundamenten sie gründen. Wie könnte es sonst sein, dass eine deutsche Richterin einen prügelnden, muslimischen Ehemann mit der Begründung freispricht, man müsse die in seiner Heimat geltenden Gepflogenheiten berücksichtigen?

Keine Frage, die in Artikel 5 des Grundgesetzes manifestierte Meinungsfreiheit gehört zu den wichtigsten Garantien unserer Verfassung: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern…“ Einschränkungen dürfen nur zum Schutz der Jugend und dem „Recht der persönlichen Ehre“  vorgenommen werden. Vor allem, wer Diktaturen erlebt hat, vermag den Wert der Meinungsfreiheit wirklich ermessen. Kein Wunder deshalb, dass der Begriff inhaltlich außerordentlich weit gefasst ist – nicht zuletzt auch, was Kunst und Satire anbelangt. Trotzdem fällt es schwer, der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu folgen, wonach die Meinungsfreiheit offensichtlich auch Rassismus umfasst. Es ging um die Überprüfung einer Entscheidung der Berliner Landesmedienanstalt gegen Texte der NPD. Und die Karlsruher Richter befanden: Auch hetzerische und möglicherweise offen rassistische Äußerungen gehören zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit (AZ: 1BvR 811/17).

Mag lieb Vaterland da ruhig bleiben? Kann es da verwundern, dass keineswegs nur im „Netz“ der Sprache, den Hass-Äußerungen, den Beleidigungen und – ja, auch das findet statt – Morddrohungen praktisch keine Zügel mehr angelegt werden? Dass zunehmend auch in den Parlamenten (im Bundestag wie in den Landtagen) fast täglich „ausgetestet“ wird, wie weit die verbalen Extremtexte gehen dürfen. Und dies auch noch offen angekündigt, zum Beispiel vom AfD-Chef Alexander Gauland. Sprache, indessen, ist keineswegs nur die Aneinanderreihung von Worten. Sprache ist weit mehr. Sprache ist Inhalt. Vor allem Demoskopen wussten und wissen das. Josef Goebbels, Hitlers Chef-Propagandist, kannte sich darin besonders gut aus. Damit schließt sich der Kreis. Dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke waren Hetzparolen und Morddrohungen vorangegangen. Und irgendwann einmal fand sich auch ein Täter. Genau wie vor wenigen Tagen in Halle. Nur dort noch heftiger.

Es wäre allerhöchste Zeit, den „Nie-wieder“-Schwur zu erneuern. Und zwar ernsthaft und entschlossen. Das muss damit anfangen, die Sicherheitsorgane sowohl materiell als auch personell wieder in die Lage zu versetzen, den zunehmenden Orgien von politisch motivierter und krimineller Gewalt wirksam zu begegnen. Nur so können Beispielsweise Polizisten wieder jene Autorität zurückgewinnen, die sie längst verloren haben. Es wirkt, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Verbrechens in Halle, geradezu absurd, wenn bei parlamentarischen Diskussionen etwa über Überwachungskameras an sozialen Brennpunkten immer und immer wieder das Gespenst des bevorstehenden „totalen Überwachungsstaats“ aus der Kiste geholt wird.

Im Grund aber muss der Appell zum Aufwachen und Widerstehen an Alle gehen. Denn wir alle sind der Staat. Wenn „die Gesellschaft“ es zulässt, dass wieder grölende Horden mit Hitler-Gruß durch die Straßen ziehen, dann hat dieses Volk nicht genügend aus den Gräueln der Vergangenheit gelernt. Dann helfen am Ende auch Polizei und Geheimdienste nichts. Dabei muss allerdings auch „die Politik“ Sorge tragen, dass die Toleranz und Hinnahmefähigkeit eben dieser Bürger nicht überstrapaziert wird. Deutschland kann und soll, ohne Frage, eine Menge tun, um das Elend in der Welt wenigstens ein bisschen zu lindern. Aber es kann dieses Elend halt nicht allein beseitigen.  

Für Kommentare: gisbert.kuhn@rantlos.de

 

 

 

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