„Neujahr“
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
Juli Zeh: Neujahr.

Der neueste Roman der vielfach preisgekrönten Autorin kreist um die Theorie, dass alles, was vor dem vierten Lebensjahr eines Menschen geschieht, nicht wirklich erinnert wird, sondern mit Fotos und Erzählungen beliebig manipuliert werden kann.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Theresa und Henning, die beide reduziert arbeiten, um sich paritätisch die Erziehung zu teilen, verbringen auf Lanzarote Weihnachten und Neujahr mit ihren zwei anstrengenden Kleinkindern. Das einzige, was aus dem Alltag heraussticht, sind Hennings anscheinend grundlose Panikattacken. An Neujahr beschließt er, einen guten Vorsatz wahrzumachen und aufs Fahrrad zu steigen. Während er sich einen steilen Berg hinaufquält, geht ihm ein Resümee seiner Lebenssituation durch den Kopf. Rückblenden, Sinneseindrücke der Landschaft und Gefühle mischen sich abwechslungsreich. Als Leser ist man dabei. Je höher er sich quält, umso mehr strengt es ihn an, aufsteigende Wut zu unterdrücken. Oben kommt er dehydriert und hungrig an, weil er nichts mitgenommen hat. Auf der Suche nach Hilfe kommt er zu einem einsamen Haus, in dem eine deutsche Aussteigerin wohnt. Sie hat vor Jahren das Haus als Schnäppchen erworben, weil es eine düstere Vorgeschichte hat. Der erste Teil des Buches endet mit einer Art Déjà-vu. Glaubt Henning nur, nie zuvor auf

Lanzarote gewesen zu sein, oder erinnert er sich wirklich an das Haus?
Der zweite Teil ist aus der Sicht Hennings im Alter von etwa fünf Jahren geschrieben. .Absolut überzeugend schildert das Kind einen Urlaub mit Eltern und Schwester in diesem Haus. Der Autorin gelingt der ständige Wechsel zwischen magischem Weltbild, Logik, Wunschdenken, Vernunft und Beobachtungsgabe, anhand einer katastrophalen Situation. Warum schweigt die Überlieferung der Familie dazu?
Die jetzige Bewohnerin des Hauses spürt die lauernde Panik des Radfahrers. Sie bittet ihn zu gehen und er radelt ins Hotel, als sei nichts gewesen. Wieder in Deutschland klärt ein Anruf bei der Mutter, was es mit der angeblichen Erinnerung auf sich hat. Bis auf das Ende, das doch etwas zu geschönt ist, ein mitreißendes Buch, bei dem man sich bremsen muss, nicht zwischendurch mal ans Ende zu blättern.
Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-630-87572-9
€ 20,00 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,90* (* empf. VK-Preis)
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman „Adler und Engel“ (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman „Unterleuten“ (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018).