Kurs Nord/Nordost

Der NATO-Beitritt von Finnland und Schweden verändert die Sicherheitsordnung im Ostseeraum grundlegend. Vor allem das Baltikum profitiert.

NATO-Beitritt von Finnland © Wilfried Pohnke auf Pixabay.com

60 Stunden – diese Zeitangabe ist im Baltikum berühmt-berüchtigt. 2016 kam eine Studie der amerikanischen Denkfabrik RAND Corporation zu dem Ergebnis, dass Russland im Falle eines konventionellen Angriffs innerhalb ebendieser Zeitspanne die Kontrolle über die Hauptstädte Estlands, Lettlands und Litauens erlangen könnte. Die Streitkräfte der drei EU- und NATO-Mitglieder hätten der russischen Übermacht kaum etwas entgegenzusetzen. Seither geistert die Befürchtung durch die Hauptquartiere westlicher Militärs, Wladimir Putin könnte einen schnellen Vorstoß in der Region nutzen, um die Entschlossenheit des Bündnisses auf die Probe zu stellen und die Glaubwürdigkeit der in Artikel Fünf des Nordatlantikvertrags verankerten kollektiven Verteidigung zu untergraben.

Auch wenn die Aktualität dieser Ergebnisse angesichts der desaströsen Bilanz der russischen Armee seit Beginn ihres Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hinterfragt werden muss, so besteht kein Zweifel, dass Estland, Lettland und Litauen die strategische Achillesferse des transatlantischen Bündnisses bilden. Die drei baltischen Staaten liegen eingeklemmt zwischen Belarus im Südosten und der russischen Exklave Kaliningrad im Westen. Mit dem Rest der Allianz werden sie lediglich durch den schmalen Suwałki-Korridor an der polnisch-litauischen Grenze verbunden. Dieser könnte im Konfliktfall schnell von feindlichen Truppen erobert und die baltischen Staaten so von den übrigen NATO-Verbündeten abgeschnitten werden. Die NATO stünde dann vor einem Dilemma: entweder einen russischen fait accompli hinzunehmen und sich damit jeglicher Glaubwürdigkeit zu berauben. Oder aber einen Rückeroberungsversuch zu starten und dadurch einen großflächigen Krieg mit Russland zu riskieren, in dem noch dazu jederzeit die Gefahr einer nuklearen Eskalation bestünde.

Estland, Lettland und Litauen bilden die strategische Achillesferse der NATO.

Der bevorstehende NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens verändert dieses militärische Kalkül jedoch grundlegend. Die Norderweiterung des Bündnisses ist ein echter geopolitical gamechanger, der die Verteidigung des Baltikums erheblich vereinfacht. Entsprechend erfreut war man in Tallinn, Riga und Vilnius, als sich die beiden nordischen Staaten im Mai 2022 zu einem Antrag auf Aufnahme in die Allianz entschlossen. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas kommentierte die Entscheidung am 15. Mai vergangenen Jahres auf Twitter wie folgt: „Cannot overstate the importance of these steps for our NATO family and Nordic-Baltic security. Look forward to the day we can say #WeAreNATO together with Finland and Sweden“. Nur einen Tag nach der Verkündung veröffentlichte Kallas gemeinsam mit ihren Kollegen aus Lettland, Arturs Krišjānis Kariņš, und Litauen, Ingrida Šimonytė, ein gemeinsames Statement, in welchem sie die Entscheidung Finnlands und Schwedens auf das Wärmste begrüßten. Bezeichnenderweise gehörten die drei baltischen Republiken zu den ersten Mitgliedstaaten, die den Beitritt offiziell ratifizierten. Insbesondere für Litauen stellt der erfolgreiche Abschluss des Doppelbeitritts bis Juli 2023 seither ein wichtiges außenpolitisches Ziel dar – dann nämlich wird das Land den nächsten Gipfel der NATO-Staats- und Regierungschefs ausrichten.

Sowohl Finnland als auch Schweden haben mit dem NATO-Beitritt eine „kopernikanische Wende“ in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen. Beide Staaten lösen sich damit von ihrer langjährigen Tradition der militärischen Bündnisfreiheit. Schon zuvor gab sich allerdings niemand in Helsinki oder Stockholm der Illusion hin, einsatzfähige Streitkräfte seien für eine glaubhafte militärische Abschreckung Russlands nicht länger nötig. Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ging es den Regierungen beider Länder mit der Entscheidung zum NATO-Beitritt vor allem darum, eine zusätzliche Absicherung jenseits ihrer nationalen Fähigkeiten zu schaffen.

Für die NATO wiederum stellen Finnland und Schweden einen wertvollen politischen und militärischen Gewinn dar. Beide Staaten verfügen über moderne, gut ausgerüstete Streitkräfte und stabile demokratische Institutionen. Nach jahrelangen Aufnahmerunden militärischer Leichtgewichte ist dies für das Bündnis keine unwichtige Erwägung. Schweden gibt aktuell etwa 1,3 Prozent (circa 8,4 Milliarden US-Dollar) seines Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung aus. Damit bleibt das Land zwar weit hinter der Zielvorgabe von zwei Prozent zurück, die Regierung hat aber angekündigt, diesen Wert bis 2028 erreichen zu wollen. Stark aufgestellt ist Stockholm vor allem im Bereich der Seestreitkräfte sowie bei der Luftverteidigung. Besonders von den fünf U-Booten der schwedischen Marine wird die Standing Maritime Group 1 der NATO profitieren, die unter anderem für die Verteidigung der Ostsee zuständig ist.

Die Ostsee wird faktisch zum bündniseigenen Binnenmeer.

Der finnische Verteidigungsetat beläuft sich schon jetzt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (circa 6 Milliarden US-Dollar). Dennoch plant das Finanzministerium für die Jahre 2023 bis 2026 eine weitere Steigerung um insgesamt 2,2 Milliarden US-Dollar. Im Februar 2022 wurde mit der US-Regierung eine Einigung über den Kauf von 64 hochmodernen F-35 Kampfflugzeugen unterzeichnet, die bis Anfang der 2030er Jahre die älteren F/A-18 der finnischen Luftwaffe ersetzen sollen. Mit einem Wert von rund 8,4 Milliarden Euro ist sie das größte militärische Beschaffungsvorhaben in der Geschichte Finnlands. Aufgrund der fortbestehenden Wehrpflicht und eines besonderen Reservesystems könnte die finnische Armee im Kriegsfall innerhalb kürzester Zeit auf 800 000 bis 900 000 Frauen und Männer anwachsen – für europäische Verhältnisse eine enorme Zahl.

Wie weitreichend die Veränderungen sein werden, die der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens für die militärstrategische Tektonik in Nordosteuropa bedeutet, erkennt man schon bei einem kurzen Blick auf die Landkarte. Die Ostsee wird faktisch zum bündniseigenen Binnenmeer. Die Verteidigung Estlands, Lettlands und Litauens wird sich hierdurch erheblich vereinfachen, denn Finnland und Schweden tragen in Zukunft die Hauptverantwortung für die (Mit-)Verteidigung des Baltikums. Der estnische Luftraum wird künftig auch aus Finnland überwacht und verteidigt werden können. Die Hauptstädte Tallinn und Helsinki liegen grade einmal etwas mehr als 80 Kilometer voneinander entfernt – für moderne Artillerie- und Luftabwehrsysteme stellt diese Distanz keine Herausforderung dar. Gleichzeitig schafft die Norderweiterung die nötige strategische Tiefe für die Rückeroberung möglicherweise besetzter Gebiete. Die beiden Nordländer füllen die bisher bestehende Lücke – den „blinden Fleck“ – in der Verteidigungsplanung der NATO für das östliche Bündnisgebiet. Auch allgemein werden die Möglichkeiten des Bündnisses zur raschen Kräfteprojektion in den Nordosten Europas deutlich verstärkt. Die Versorgung mit Nachschub kann auf Luft- und Seewegen über Schweden nun deutlich schneller und verlässlicher als bisher sichergestellt werden. Die schwedische Insel Gotland ermöglicht darüber hinaus die Kontrolle über den Luftraum und die maritimen Aktivitäten in der Ostsee.

Unterm Strich hat Wladimir Putin mit seiner aggressiven Expansionspolitik also genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er ursprünglich beabsichtigt hatte.

Bestenfalls wird allein schon dieser Umstand Russland künftig von provokanten Operationen in der Region abschrecken. Doch auch insgesamt gerät Moskau angesichts dieser Entwicklungen im Ostseeraum in eine Defensivlage. Erstens wird dem Kreml durch den NATO-Beitritt Schwedens die Möglichkeit genommen, eine Landnahme im Baltikum durch einen schnellen „Handstreich“ und die (vorübergehende) Besetzung der Insel Gotland seeseitig zu decken. Zweitens wird die russische Exklave Kaliningrad noch mehr als bisher zu einem neuralgischen Punkt für Russland. Und drittens rückt durch den finnischen NATO-Beitritt Sankt Petersburg wieder stärker in das Blickfeld militärischer Planungen. Zwar würde die NATO in keinem denkbaren Konfliktszenario direkt gegen die Stadt vorgehen. Doch wäre je nach Eskalationsniveau zumindest die Sperrung des Finnischen Meerbusens zur Kontrolle einlaufender Schiffe denkbar.

Unterm Strich hat Wladimir Putin mit seiner aggressiven Expansionspolitik also genau das Gegenteil dessen bewirkt, was er ursprünglich beabsichtigt hatte. Durch den Beitritt Finnlands entstehen rund 1 300 neue Grenzkilometer zwischen Russland und dem transatlantischen Verteidigungsbündnis. Die bisherige Grenze wird damit auf einen Schlag mehr als verdoppelt. Angesichts der dramatisch verschlechterten Sicherheitslage setzen selbst Länder mit einer jahrzehntelangen Tradition der Bündnisfreiheit nun auf die Karte einer NATO-Mitgliedschaft. Militärische Neutralität hat als Garant für stabile Beziehungen zu Moskau jeden Wert verloren. Eine strategische Lebensversicherung ist sie erst recht nicht mehr. Im Ergebnis verschieben sich die militärischen Kräfteverhältnisse im Ostseeraum (weiter) zugunsten der NATO. Die Gesamtverteidigung des Gebiets wird hierdurch vereinfacht. Die größten Gewinner dieser Entwicklung sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.

Der ehemals neutrale Raum in Europa schmilzt dahin.

Dies zeigt, dass sich Nordosteuropa längst in seiner ganz eigenen „Zeitenwende“ befindet, während sich die Bundesregierung bei deren Umsetzung hierzulande weiterhin im bürokratischen Klein-Klein ihres eigenen Paragrafendschungels verfängt. Zur skandinavischen Version der Zeitenwende gehört neben der NATO-Norderweiterung auch die Öffnung Dänemarks für die Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. In Kopenhagen, Stockholm und vor allem in Helsinki zeichnen sich die ersten Konturen der neuen Sicherheitsordnung in Europa ab – ausgerechnet dort also, wo im Jahr 1975 mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte ein Meilenstein auf dem Weg zur Vision von einer kooperativen und unteilbaren Friedens- und Sicherheitsarchitektur für den Kontinent gesetzt wurde. In einer tragischen Wendung der Geschichte wird Sicherheit in Europa auf absehbare Zeit aber wieder gegen ein aggressives, revisionistisch und neoimperial auftretendes Russland organisiert werden müssen. Infolge des Kriegs in der Ukraine steht Europa erneut vor dem Zerfall in zwei Blöcke: Finnland und Schweden ebenso wie die Republik Moldau und Georgien mit ihrem Wunsch nach einer verstärkten Einbindung in die westlichen (Bündnis-)Strukturen einerseits. Auf der anderen Seite Belarus, das seit Kriegsbeginn und spätestens mit der jüngsten Ankündigung der Stationierung russischer taktischer Atomwaffen zumindest auf offizieller Ebene vollends zum Vasallenstaat Russlands verkommen ist.

Der ehemals neutrale Raum in Europa schmilzt dahin – und mit ihm die Möglichkeiten für Verhandlungen und Vermittlung. Der Trend zur (Re-)Polarisierung in Europa ist mit Blick auf die Stabilität des Kontinents zumindest aus historischer Perspektive sehr bedenklich. Mag der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens im Ringen der westlichen Demokratien mit ihren autoritären Kontrahenten um die Grundpfeiler der künftigen internationalen Ordnung auch ein Punktsieg für das liberale Modell sein, so wäre ein vollständiges Ende des Wegs der Neutralität in Europa ein freilich beunruhigendes Warnsignal für den alten Kontinent.

Lukas Hassebrauck ist Referent für Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Deutschen Bundestag.

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