Als der Lindauer „Liederkranz“ zum Sturm auf das preußische Achberg blies

Von Jörg Bischoff

“Eine heitere Erzählung von Johannes Vogel”

Das kleine Örtchen Achberg in der Nähe von Lindau am Bodensee war bis zur Verwaltungsreform in Baden-Württemberg von 1974 die südlichste Exklave der „Hohenzollerischen Lande“. In diesem Örtchen hat sich 1866 ein seltsames Ereignis abgespielt. Ein paar Männer vom „Liederkranz“ im zehn Kilometer entfernten, aber bayerischen Lindau beschlossen, unter Führung des Rechtsanwalts Hermann Beckh, später Reichstagsabgeordneter der Freisinnigen und Gründer des Deutschen Sängerbundes, die preußische Exklave im Namen des Deutschen Bundes zu „erobern“.

„Hell loderte der Preußenhass“

 Am 17. Juni 1866 war in Frankfurt a. M. von dem damals schon in den letzten Zügen liegenden Bundestag (offiziell „Bundesversammlung der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes) beschlossen worden, die so genannte Bundesexekution gegen Preußen ablaufen zu lassen. Zuvor hatte der preußische Gesandte im Bundestag auf Befehl des Königs Wilhelm I. von Preußen erklärt, dass Preußen den Bundesvertrag von 1815 infolge des Konflikts mit Österreich wegen der beiderseits beanspruchten Vormachtstellung in Schleswig und Holstein als gebrochen und nicht mehr als verbindlich ansehen werde. Es war der Beginn des „Deutschen Kriegs“..

Angeblich hätten die Preußen bereits tags zuvor in Hof die bayerische Grenze überschritten, meldeten einzelne Zeitungen. Tatsächlich aber geschah dies erst am 23. Juni 1866. „Hell loderte“, so hieß es nachträglich in bayerischen und württembergischen Zeitungen „der Preußenhass in ganz Süddeutschland empor“. In Hunderten von Volksversammlungen wurde der „von Bismarck freventlich heraufbeschworene Bruderkrieg“ gegen Österreich verdammt und zu energischer Gegenwehr gegen die Preußen aufgefordert.

Wie die Fliege im Bernstein 

Die erste Trochtelfinger Kirche entstand um 700 als Pfarr- und Taufkirche im Zuge der fränkischen Mission (Urpfarrei) und erhielt den Namen des Reichsheiligen St. Martin. © wiki-Hans Lipp

Im damaligen Königreich Württemberg, wo die ehemals preußischen und jetzt als „hohenzollerische Lande“ firmierenden Gebiete „wie eine Fliege im Bernstein“ (Sebastian Blau) eingeschlossen waren,  forderten einzelne Blätter sogar dazu auf, gegen diese Enklaven  die Bundesgewalt auszuüben. Schließlich sei es doch „undenkbar, dass Feindesland mitten unter bundestreuen Staaten unbeachtet ein selbstständiges Leben führen könne“.

Die einstigen Fürstentümer Hohenzollern-Sigmaringen und Hohenzollern-Hechingen waren mitsamt ihren 65 0000 Einwohnern nach der Revolution von 1848 von den beiden Fürsten, welche die Lust am Regieren verloren hatten und sich auf alte Erbverträge beriefen, den „großen“ Vettern in Preußen übergeben worden. Der Pfarrer von Trochtelfingen predigte damals: Er werde heute zu sprechen haben, darüber, „dass wir preußisch geworden sind und darüber, dass wir es um unserer Sünden willen nicht besser verdient haben.“

Eine teure Verwaltung  

Die beiden Fürstentümer blieben – allerdings als ein eigener preußischer Regierungsbezirk – selbstständig und leisteten sich eine teure Verwaltung. Im Bundestag in der Frankfurter Paulskirche spottete darum der württembergische Demokrat Moritz Mohl: die hohenzollerischen Lande  leisteten sich „ eine Geheimkonferenz, eine Regierung, ein Hofgericht, eine Finanzkammer, acht oder zehn Oberämter und Gott weiß, was noch“. Tatsächlich hatten sie noch bis ins 20. Jahrhundert einen „Kommunal-Landtag“, der an die Stelle des Kreistags trat.

 „Vom Fels zum Meer“ beschrieb damals Preußens König Wilhelm IV. sein Königreich, das nun von der Stammburg Hohenzollern auf der Schwäbischen Alb bis an das baltische Meer reiche. Erst 1974 wurden die „Hohenzollerischen Lande“ im Zuge der baden-württembergischen Landkreisreform auf vier  benachbarte Landkreise verteilt. Achberg, die südlichste Exklave, wurde dem Landkreis Ravensburg zugeschlagen. 

Das Resultat der Gesangsprobe 

Schloss Achberg

In den Spannungstagen des Frühsommers 1866 dagegen waren sie noch rein preußisch. Deshalb entschloss sich der Lindauer Rechtsanwalt Hermann Beckh am 19. Juli, die Achberger von ihrem Los zu befreien. In einer Gesangsprobe des „Liederkranzes“ schlug er vor, die Enklave Achberg , die mit heute 1700 Einwohnern nur aus einem prächtigen Schloss, zwei Kirchdörfern mit Namen Esseratsweiler und Siberatsweiler sowie weiteren kleinen Weilern und Wohnplätzen bestand, kurzerhand für Bayern und damit für den Deutschen Bund zu annektieren.

Obwohl einige ältere Sangesbrüder Bedenken erhoben, vereinbarte Beckh für den kommenden Tag einen als „Spaziergang“ deklarierten eineinhalbstündigen Marsch über die Grenze hinweg ins benachbarte, feindliche Dorf. Vorher schon hatte er sich bei dem Büchsenmacher Walch erkundigt, wie viele Gewehre dieser wohl vorrätig habe. Am Nachmittag des 20. Juli 1866 trafen denn auch etwa 12 meist jüngere Lindauer unter der Führung Becks in Achberg ein, und zwar im Hauptort Esseratsweiler.

Mit Schärpe und Spielzeugpistole 

Beckh selber hatte sich eine schwarz-rot-goldene Schärpe angelegt. Ferner trug er ein Jagdgewehr samt Pulverhorn bei sich. Andere waren mit Pistolen bewaffnet. Ein Kaufmann namens Karl August Geist war mit einer Kinderpistole aus dem eigenen Spielzeugwarenladen erschienen. Der Schreiber Joseph Moser trug zwei Fahnen in den bayerischen Farben weiß-blau und den Bundesfarben schwarz-rot-gold mit sich. So marschierten  sie am Pfarrhof von Esseratsweiler vorbei, wo die Pfarrköchin gerade im Garten beschäftigt war. Einer der Eroberer rief ihr zu, der Pfarrhof werde heute noch gestürmt.

Brauerei Hotel Gasthof Lanz

An der Brauerei von „Lanz“, die bis dahin von den Lindauern gerne besucht worden und jetzt als Hauptquartier des Eroberungszuges ausersehen war, gab Beckh mit seinem Jagdgewehr auf das Postwappen derer von Thurn und Taxis einige „blinde Schüsse“ ab, sodass das Schild „ganz schwarz wurde“. Dann ließ er bei einem Schmied die Gemeindeböller aus dessen Wohnung holen und vor den Fenstern der Brauerei aufpflanzen. Mehrere Einwohner von Achberg wurden in Wirtshäusern freigehalten und als deutsche und bayerische Bürger willkommen geheißen.

Die Proklamation des „Herrn Hauptmann“ 

Beckh selber, der von seinen Leuten „Herr Hauptmann“ tituliert wurde, ging derweilen zum Gemeindeplatz, wo eine Ortstafel stand. Dort befestigte er die mitgebrachten Fahnen und ließ durch den Gerbermeister Christian Walpertinger von Lindau-Äschach eine Proklamation anbringen, die auf Kanzleipapier geschrieben und mit einem riesigen Siegel versehen war.

Dort stand zu lesen:

„Achberger! Deutsche Brüder, Freunde! Die Stunde der Befreiung hat für Euch geschlagen. Frei solltet ihr sein von heute an von dem tyrannischen Regiment, frei von einer eigennützigen, brudermörderischen Despotie, die erst vor wenigen Jahren, ohne dass ihr auch nur gefragt wurdet, Euch mit ihren gierigen Klauen umfing. Nachdem Preußen den deutschen Bruderkrieg bereits begonnen, deutsches Bundesland besetzt hat und auch in bayerisches Gebiet eingebrochen ist, kommen wir zu Euch als Vertreter des deutschen Volkes und Bundes und erklären, dass die Herrschaft des einköpfigen Adlers in Achberg unterm Heutigen aufgehört hat und dass Ihr nun freie Bürger des neuen deutschen Reiches und Bundes seid. Deutsche Männer, Brüder, ein schönes Los blüht Euch als freie Männer in einem freien Land, als deutsche Bürger im großen deutschen Vaterland. Der bayerische Staat nimmt Euch als solche auf mit deutschem Gruße. Es lebe das neue deutsche Reich! “.

„Es lebe das neue deutsche Reich“

Gezeichnet war die Proklamation mit dem Ruf „Es lebe das neue deutsche Reich, Esseratsweiler, den 20. des Heumonats. Im Namen der deutschen Volksheere, der Commandant der bayerischen Schar.“ Beckh gab noch einige „blinde Schüsse“ auf eine selbst gefertigte Karikatur Bismarcks ab, die er anschließend verbrannte. Dann schlug er mit der Axt die preußische Ortstafel entzwei. Von der Wirtin der Brauerei ließ er sich Gewehre geben, von denen allerdings das eine kein Schloss und das andere keinen Hahn hatte.

Pfarrhof von Esseratsweiler

Damit, freilich, war die Köpenickiade des Lindauer Sänger-„Heeres“ noch keineswegs zu Ende. Denn nun begab sich der „Commandant“ in den Pfarrhof und erkundigte sich bei der Schwester der Pfarrköchin nach dem Pfarrer, dem Kirchenschlüssel und der Gemeindetrommel. Die Antwort der Köchin: Der Pfarrer sei gestorben, und die Schlüssel habe deshalb der Lehrer. Im Schulzimmer erklärte Beckh dem Lehrer, dass Achberg jetzt eingenommen sei und die Schule auf bayerische Verhältnisse umgestellt werden müsse. Der Lehrer nahm Beckh zunächst tatsächlich ernst, wurde aber später durch den Amtsgehilfen Greimer über den wahren Sachverhalt aufgeklärt.

Ein wehrhafter Revierförster 

War die Sache bis dahin eher ein Scherz, so wurde sie ernst, als plötzlich der 82jährige fürstlich hohenzollerische Revierförster Feuerle mit seinem geladenen Gewehr auf der Szene auftauchte. Er wurde angehalten und gefragt, wer er sei. Die Antwort: Er habe ja auch nicht gefragt, wer der Frager sei. Als der wackere Forstmann schließlich dem jungen Lindauer auch noch erklärte, er sei bewaffnet und dazu berechtigt, wurde nach dem „Hauptmann“ gerufen. Dieser bedeutete dem Revierförster, Achberg sei jetzt eingenommen und er, Feuerle, sei jetzt bayerisch.

Cafe-Restaurant Zum Schützengarten in Lindau

Das war diesem nun wirklich zu viel. Um es kurz zu machen, der Förster akzeptierte die „Befreiung“ nicht. Er habe immerhin schon zweimal solche Wechsel durchgemacht und wisse deshalb, dass es dazu einer königlichen Vollmacht bedürfe. Eine „zusammengewürfelte Rotte von Leuten“ reiche dazu nicht. Daraufhin wies Beckh ihn zurecht, er solle nicht räsonieren, sonst werde er entwaffnet und nach Lindau geführt. Als der Förster „Miene machte, seine Waffe zu gebrauchen“, wurde sie ihm entwunden, und man entfernte die beiden Zündhütchen.

Erst allmählich begriff der aufgeregte Feuerle, dass der „Sturm auf Achberg“ ein Scherz sei. Er riet den „Okkupanten“ zu machen, „dass sie weiterkommen“. Die Lindauer ihrerseits verlasen die Proklamation noch einmal, brachten drei Mal ein Hoch auf Deutschland aus und schossen fünfmal in die Luft. Danach endlich zog die Schar ins Wirtshaus, genehmigte sich eine Stärkung und machte sich dann auf den Rückweg – allerdings nicht, ohne weitere preußische Ortsschilder zusammenzuschlagen. In Lindau ging es schließlich noch in den „Schützengarten“, wo man den Sieg über Preußen gebührend feierten.

Das Gericht kennt keinen Spaß 

Die Lindauer Stadtverwaltung allerdings konnte in der Aktion keine deutsch-patriotische Sache erkennen. Dort herrschte der Oberbürgermeister Oskar von Stobäus von der Nationalliberalen Partei, und der hatte den Rechtsanwalt Beckh von den „Deutsch-Freisinnigen Vereinigten Liberalen“ schon länger gegen sich. Stobäus leitete eine strenge Untersuchung des Vorfalls ein, was auch einen Prozess vor dem bayerischen Bezirksgericht wegen „ungesetzlicher Bewaffnung“ und „Anmaßung eines öffentlichen Dienstes“ nach sich zog.

Vergebens erklärte Beckh vor Gericht, der Vorgang sei doch nur ein „Annektionsschwank“ gewesen. Gnadenlos wurden die Eroberer mit Gefängnisstrafen von 14 bis 45 Wochen belegt. Das Urteil wurde jedoch später nach einem Einspruch der Verteidigung aufgehoben. Man hatte auch vergebens den Bürgermeister von Esseratsweiler aufgefordert, Strafantrag zu stellen, doch der weigerte sich. Begründung: Es bestehe die Hoffnung, dass der Vorfall gar nicht zur Kenntnis der „kgl. preußischen Regierung gelange“.  Außerdem hatten Preußen und das im Krieg auf österreichischer Seite stehende Bayern nach der Schlacht von Königgrätz und dem anschließenden Friedensschluss von Nikolsburg vereinbart, „dass kein Untertan der Könige von Preußen und Bayern wegen seines Verhaltens während des Krieges verfolgt werden solle“. Der Oberste Gerichtshof Bayerns erklärte daraufhin, es sei unerheblich, ob die Sache ernst gemeint gewesen sei oder nicht. Dennoch: der Lindauer Rechtsanwalt Hermann Beckh hatte jetzt seinen Spitznamen weg –”Herzog von Achberg”.

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