Von Günter Müchler

Dr. Günter Müchler

Für die AfD läuft es zurzeit bestens. Ihre Zustimmungswerte erreichen Rekordhöhe. In einigen ostdeutschen Bundesländern toppt sie bereits die CDU. Auf Bundesebene distanziert sie die Sozialdemokraten, immerhin die Partei des amtierenden Bundeskanzlers. Schon träumt man in den Rängen der Rechtsaußen schon davon, mit einem eigenen Kanzlerkandidaten in die nächste Bundestagswahl zu gehen. Ob sich die Machtphantasien auf mehr stützen können als auf eine günstige Momentaufnahme, muss sich noch herausstellen. Es hängt auch vom Verhalten der Konkurrenz ab, das aktuell allerdings einem Förderprogramm für die AfD nahekommt. Statt die Rechtspartei mit dem Alleinstellungsmerkmal, gegen alles zu sein, argumentativ anzugehen, klagen Ampel und Union einander an, ihren Aufschwung zu pampern. Besseres kann der AfD kaum passieren. Fast ohne eigenes Zutun ist sie der Hit im Sommerloch. Dabei wäre es dringend an der Zeit, der Partei ein paar Fragen zu stellen. Zum Beispiel die, weshalb sie so unpatriotisch ist.

Die Stimmung in Deutschland ist nicht gut. Die Wirtschaft lahmt. Während die meisten Nachbarökonomien moderat wachsen, werden Scholz & Co. froh sein, wenn unter der Jahresbilanz 2023 Stagnation steht und nicht Rezession. Weshalb der Wirtschaftsmotor nach den Rücksetzern durch Corona und Russlands Krieg nicht anspringen will, hat diverse Ursachen, zum Beispiel chronische Überbürokratisierung und Langzeitschäden in der Infrastruktur. Eine weitere Ursache sind die Energiekosten, für die nirgendwo in Europa mehr aufgebracht werden muss als in Deutschland. Schuld daran sind die notwendige, aber teure Befreiung aus der Russland-Abhängigkeit und der vollkommen unnötige Ausstieg aus der Kernenergie.

Die meisten Bürger kennen sich im Dickicht mikro- und makroökonomischer Zahlen nicht aus. Vielleicht fällt ihnen auf, dass Industriekapitäne, Gewerkschaftsführer und Wirtschaftsweise in ihren Liedern in jüngster Zeit die Refrains auf Moll gestimmt haben, und zwar in seltener Eintracht. Noch mehr zur Beunruhigung trägt bei, wovon jeder aus eigenem Erleben berichten kann: von gestiegenen Preisen, fehlendem Wohnraum und Warteschlangen, die man früher nicht gewohnt war.

Es ist nicht zuletzt der allgegenwärtige Personalmangel, der das Krisenbewusstsein schürt. Zwar ist es schön, wenn heutzutage Arbeit findet, wer arbeiten will. Bekanntlich war das nicht immer so. Vor zwanzig Jahren, als der damalige (sozialdemokratische) Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2000 die Notbremse zog, gab es zu wenige Jobs für zu viele Arbeitslose. Heute dagegen gibt es zu viel Arbeit für zu wenige Menschen. Die Hauptursache ist eingemeißelt; selbst die beste Arbeitsmarktreform beißt sich daran die Zähne aus: Die deutsche Bevölkerung schrumpft, und sie wird unfehlbar weiter schrumpfen. Demographen haben das seit Jahrzehnten vorhergesagt. Leider predigten sie tauben Ohren. Dabei ist die Demographie kein delphisches Orakel. Ihre Zahlen sind unanfechtbar, ihre Rechnungen greifen weit über parlamentarische Perioden hinaus. Wer heute versucht, mit politischen Mitteln den demographischen Trend zu verändern, wird die Ernte frühestens in einer Generation einfahren.

Der Arbeitskräftemangel hinterlässt überall Spuren. Unternehmen sehen sich gezwungen, mangels Manpower ihre Produktionspläne anzupassen. Verkehrsteilnehmer sind entnervt, weil Baustellen nicht vorankommen; Häuslebauer, weil das Eigenheim nicht fertig wird. Wer etwas zu reparieren hat, erinnert sich wehmütig der Zeiten, als Handwerker immer zu haben waren. Am schrillsten läuten die Alarmglocken dort, wo es um öffentliche Dienstleistungen geht. Eltern suchen händeringend Kitaplätze. Der Staat hat sie garantiert und bricht seinen Eid täglich, weil das Personal fehlt. Krankenhäuser rufen den Notstand aus. Pflegeheime sind am Limit. Schulen streichen Unterrichtsstunden, Schwimmbäder reduzieren ihre Öffnungszeiten, Restaurants fahren ihr Angebot auf eine Mahlzeit pro Tag zurück. Bahn, Bundeswehr und Behörden rivalisieren um den Nachwuchs. Der Fehlbedarf ist riesig und mit „Bordmitteln“ nicht zu decken. Es gibt kein Vertun: Wenn es nicht ungemütlich werden soll in Deutschland, müssen Arbeitskräfte aus dem Ausland her, jährlich in sechsstelliger Höhe.

Was sagt die AfD dazu? Ihre Lösung ist Verweigerung. Die AfD ist gegen Einwanderung und raunt von „Umvolkung“, die angeblich in Berlin betrieben wird. Konzentrierte sich die Rechtsaußenpartei darauf, Risiken und Nebenwirkungen von Migration zu benennen, die es auch gibt, könnte sie einen aufklärerischen Beitrag leisten. Stattdessen sündigt sie gegen den Verstand. Lustvoll nährt sie Vorurteile. Sie bläst die Fanfare, wenn irgendwo ein Ausländer gegen Recht und Gesetz verstößt, und gaukelt einer verunsicherten Bevölkerung vor, die Firma Deutschland funktioniere auch und besser ohne Einwanderer.  „Mehr Kinder statt Masseneinwanderung“, heißt es lapidar in ihrem Grundsatzprogramm.

Auch auf anderen Feldern betreibt die AfD Trumpismus pur. „Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann“. Der Satz stammt von Björn Höcke, dem unbestrittenen Star der AfD. Raus aus dem Euro, raus aus der Europäischen Union. Die Höckes wollen einen „Dexit“, obschon dessen britische Version vorführt, dass der Rückfall in den Nationalismus den Nationen des 21. Jahrhunderts so förderlich ist wie ein Selbsttor im Fußball. Man muss ja die Globalisierung nicht einschränkungslos bewundern. Sie ist aber Realität. Die Welt wird von großen Playern gelenkt. China strebt in die Pole-Position. Indien, inzwischen der bevölkerungsreichste Staat auf Erden, folgt auf dem Fuße. Die USA konzentrieren sich immer mehr auf sich selbst und verlieren die Lust, den Stützmeier Europas zu spielen. Deutschland allein gegen die Stromschnellen der geopolitischen Grundströmung? Es glaubt ja auch keiner, dass man ein Autorennen im Rückwärtsgang gewinn.

Antiwestliches Stammesdenken ist kennzeichnend für die Linie, die sich in der AfD durchgesetzt hat. Antiwestliche Kumpanei erklärt auch die Russlandpolitik der Rechtspartei, die sonst nicht zu erklären wäre. Dass Russland die Ukraine brutal überfallen hat, wird hier und da sogar in der AfD zugegeben, hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand. Dass Russlands Neoimperialismus nicht an der Grenze zu Polen haltmachen würde, wenn einmal die Ukraine einkassiert wäre, müsste man wenigstens einkalkulieren. Warum also scharwenzeln AfD-Politiker bei retrosowjetischen Siegesfeiern herum? Warum spielen sie Putins Pinscher? Die Antwort lautet, weil Putin die Werte des Westens hasst und Vorkämpfer eines dumpfen Gefühls ist, das man in vollem Umfang teilt.

Mit Patriotismus hat das alles nichts zu tun. Im Gegenteil: Eine Politik, die Deutschland aus EU und Nato heraushaben will, die auf die Partnerschaft mit dem dinosaurierhaften Russland setzt – „Burkina-Faso mit Atomwaffen“, formulierte einmal Helmut Schmidt – und sich starrsinnig der demographischen Notwendigkeit verschließt, hat logisch nicht die Stärkung Deutschlands zum Ziel, sondern seine Liliputanisierung.

Es müsste doch möglich sein, Menschen, die mit der AfD liebäugeln, davon zu überzeugen, dass die Partei, die sich als Bannerträgerin des Patriotismus ausgibt, in Wahrheit die deutschen Interessen demontiert. Dies setzte allerdings voraus, dass CDU und CSU, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne Abstand nehmen von einem Kurs, der nun schon seit Jahren die AfD aufwertet, anstatt sie zu schwächen: Weg von Wählerbeschimpfungen und Ausgrenzung, hin zur argumentativen Auseinandersetzung.

Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.

 

 

 

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