Das Spiel der Hydra

Nach dem Putsch in Niger wächst Russlands Einfluss in Afrika. Doch auch Moskau droht der Verlust der Kontrolle – verfolgt Wagner eigene Interessen?

Es gibt zwar keine belastbaren Beweise, dass Wagner oder Russland direkt etwas mit dem Putsch zu tun haben. Auffallend ist aber, dass die Anhänger der Putschisten demonstrativ russische Flaggen schwenkten.

Inmitten der aufgepeitschten Wellen der geopolitischen Neuordnung taucht aus der Tiefsee eine Schrecken erregende Hydra auf, deren viele Köpfe symbolisch für den wachsenden Einfluss der Gruppe Wagner in Afrika stehen. Ebenso wie das mythologische Ungeheuer haben das private Militärunternehmen Wagner und sein Förderer Russland ein komplexes Verhältnis, bei dem häufig schwer zu unterscheiden ist, wer gerade wen kontrolliert. Alles, was dieses Gebilde auf einem von Moskau weit entfernten Kontinent tut, hat Implikationen, die in den Korridoren des globalen Machtgefüges nachhallen.

Der Putsch im Niger und der kurz danach abgehaltene Russland-Afrika-Gipfel lassen diesen Nexus überaus deutlich werden. Im Chaos des Staatsstreichs blieb nicht unbemerkt, dass die Anhänger der Putschisten demonstrativ russische Flaggen schwenkten. Es gibt zwar keine belastbaren Beweise, dass Wagner oder Russland direkt etwas mit dem Putsch zu tun haben, aber die opportunistischen Untertöne sind nicht zu überhören. Der Aufruhr passt scheinbar gut in das Konzept ihrer strategischen Interessen, denn er schafft mehr Instabilität und damit einen fruchtbaren Nährboden für Organisationen wie die Gruppe Wagner – auch die Hydra ist in ihrem Element, wenn es auf der See stürmisch zugeht.

Anatomisch sind die Tentakel der Hydra einerseits miteinander verbunden und andererseits eigenständig. Dasselbe gilt scheinbar prinzipiell auch für die Verflechtungen zwischen Russland und Wagner. Einerseits gilt Wagner als Russlands schattenhafter Arm, der im Verborgenen für Russlands Interessen in Ländern wie Mali und der Zentralafrikanischen Republik arbeitet. Andererseits taucht neuerdings das Narrativ auf, Wagner gehe inzwischen vielleicht unabhängig vom Kreml seine eigenen Wege. Das Gipfeltreffen in Sankt Petersburg verleiht dieser Hypothese ein gewisses Gewicht.

Der Russland-Afrika-Gipfel – der zweite seit 2019 – bringt Wladimir Putins politische Taktik auf den Punkt. In einer Welt, in der Afrika oft als Hilfsempfänger oder Ausbeutungsobjekt wahrgenommen wird, hebt Putin sich mit seinem Konzept ab: Indem er afrikanische Staats- und Regierungschefs ins Rampenlicht holt, ihnen auf Augenhöhe und als potenziellen Partnern begegnet, sägt er am traditionellen westlichen Einfluss auf den Kontinent. Als Teil seiner Strategie zur Herbeiführung einer multipolaren Weltordnung und zur Bekämpfung des „Neokolonialismus“ umwirbt Putin die afrikanischen Staats- und Regierungschefs mit einer geschickten Taktik der Soft Power. Schuldenerlasse und kostenlose Getreidelieferungen machen einen mildtätigen Eindruck, auch wenn sie nur als strategische Instrumente dienen, um Afrika von seinen traditionellen westlichen Verbündeten loszueisen und auf Russlands Seite zu ziehen.

Putins Strategie scheint teilweise aufzugehen, aber der Kampf ist keineswegs zu Ende.

Auf dem erwähnten Gipfel sorgte Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa mit seinen Äußerungen über den Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf afrikanische Länder eine neue Betrachtungsweise. Vor allem Putins Geste, das Thema mit den betroffenen afrikanischen Ländern zu erörtern, festigt das Narrativ, dass Entscheidungen einvernehmlich getroffen werden und Putin die Souveränität afrikanischer Staaten respektiert. Die Botschaft an die afrikanischen Staatenlenker lautet: Russland ist ein Freund, Russland ist ein Partner, Russland hört euch zu. Ich, Wladimir Putin, höre euch, ich höre euch besser zu als jeder westliche Staats- oder Regierungschef zuvor.

Putins Strategie scheint teilweise aufzugehen, aber der Kampf ist keineswegs zu Ende. Das Fiasko der gescheiterten Wagner-Revolte in Russland macht deutlich, dass die Hydra vielleicht nicht ganz so geeint ist, wie es den Anschein hat. Die Revolte wirft die entscheidende Frage auf, wie Wagner in Zukunft auf dem Kontinent operieren wird. Ist Putin der Strippenzieher, der die Hydra steuert, oder ist das Ungeheuer so groß geworden, dass es nicht mehr zu kontrollieren ist? Reitet der russische Präsident lediglich auf den Wellen, die die Hydra erzeugt, und ergreift die sich eröffnenden Chancen beim Schopf, oder lenkt er das Monstrum nach einem übergreifenden Masterplan?

Die Dynamik zwischen Russland und Wagner in Afrika ist und bleibt so komplex, dass die Grenzen zwischen Souveränität, Eigeninteressen und Weltmachtpolitik oft verschwimmen. Die aus Wagner und Russland bestehende Hydra mag in sich selbst verknotet sein, aber sie kann auch mehrere eigenständige Wesen verkörpern. Sie könnte eine zentrale Kreatur mit vielen eigenständigen Köpfen sein oder aus mehreren miteinander verbundenen Ungeheuern bestehen, die ihre jeweils eigene Agenda verfolgen. Diese Uneindeutigkeit macht sie umso geheimnisvoller und mächtiger.

Jewgenij Prigoschin, Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, begrüßte den Staatsstreich in Niger als gute Nachricht und bot die Dienste seiner Kämpfer an.

Mit Blick auf das erwähnte Narrativ, das sich derzeit entfaltet, sei an den sagenhaften Kampf erinnert, den Herkules mit der Hydra ausgefochten hat. Für jeden abgeschlagenen Kopf wuchsen zwei neue nach – Symbol für die Widerstandsfähigkeit des Monstrums. Dem Westen und den traditionellen Verbündeten Afrikas mag es vielleicht gelingen, dieser modernen Hydra einen oder zwei Köpfe abzuschlagen, aber sie müssen sich damit abfinden, dass sie mehrgleisig agieren und einen langen Atem haben müssen, wenn sie das Ungeheuer im Zaum halten wollen. Der Putsch in Niger eröffnet ein neues Feld für dieses komplexe russische Spiel. Die Menschen, die zu Tausenden durch die Straßen von Niamey zogen, russische Flaggen schwenkten und die ehemalige Kolonialmacht Frankreich schmähten, sind ein Echo, das der Gipfel in Sankt Petersburg in diesem fernen Winkel Afrikas ausgelöst hat. Jewgenij Prigoschin, Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, begrüßte den Staatsstreich als gute Nachricht. Er bot die Dienste seiner Kämpfer an und sandte damit das Signal aus, dass der Hydra ein weiterer Kopf aus dem Leib wächst.

Der Kreml äußerte sich zwar besorgt über den Putsch und rief zur raschen Wiederherstellung von Recht und Ordnung auf, aber dass Prigoschin, der vielen als Putins rechte Hand galt, hinter den Putschisten steht, ist nicht zu übersehen. Die Anerkennung der Anführer des Staatsstreichs, die Weigerung westlicher Staaten, die neue Führung zu akzeptieren, und Prigoschins Sprachnachricht an die Junta zeigen, dass der Hydra gerade ein neuer strategischer Kopf wächst.

Afrika ist in diesem geopolitischen Drama keineswegs nur Zuschauer.

Afrika ist in diesem geopolitischen Drama keineswegs nur Zuschauer. Es ist Kampfplatz und maßgeblicher Akteur und bestimmt mit seinen Entscheidungen mit, wie die künftige Ordnung aussehen wird. Die Hydra beeinflusst weiterhin die Gezeiten auf dem afrikanischen Kontinent, und die Welt schaut gespannt zu in dem Bewusstsein, dass die dadurch erzeugten Wellen nicht an den afrikanischen Küsten Halt machen werden.

So wie die Hydra in der griechischen Mythologie aus dem Chaos Kraft zieht und durch Gegenwehr noch größer und stärker wird, wird ihr geopolitisches Pendant in Gestalt Russlands anscheinend jedes Mal stärker, wenn der Westen versucht, die afrikanischen Staats- und Regierungschefs von Moskaus Einfluss wegzuziehen. Doch mit jedem Kopf, der aus dem Ungeheuer herauswächst,  wächst auch die Chance für Wachsamkeit und tieferes Verständnis.

Russlands Motive und Manöver in Afrika verändern sich stetig und sind so komplex, dass sich dieses Narrativ nur mit einem umfassenden und kritischen Blick analysieren lässt. Jedes Gipfeltreffen, jeder Putsch, jede Unterstützung oder Verurteilung ist nur ein Teil des großen geopolitischen Puzzles. Nur wer diese Teile zusammenfügt, darf hoffen, das wahre Gesicht der Hydra zu enthüllen, bevor sie sich wieder in ihren dunklen Schlupfwinkel zurückzieht.

Als Beobachter und Akteure in diesem verzwickten geopolitischen Schachspiel müssen wir hellwach sein. Auch wenn die Hydra sich vielleicht verkriecht, plant sie mit Sicherheit den nächsten Schachzug und wartet auf den nächsten günstigen Augenblick. Dass Ganze ist ein sich immer weiter entfaltender Tanz der Macht, der Strategie und des Überlebens – eine Kampfansage an den Status quo, die niemand ignorieren kann. Der Blick muss fest auf das Schachbrett gerichtet bleiben, damit man in diesem immer weiter voranschreitenden geopolitischen Spiel auf den nächsten Zug der Hydra reagieren kann.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dr. Joana de Deus Pereira ist Senior Research Fellow bei RUSI Europe und spezialisiert auf die Bereiche Terrorismusbekämpfung sowie Prävention und Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus.

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