…und wild wie ein Teufel. Mekka der Glockenspieler: Mechelen

Von Gisbert Kuhn

St.-Rombouts-Kathedrale mit dem Denkmal Margaretes von Österreich ©Wikipedia-Paul Hermans

Mächtig wie ein starker Arm mit geballter Faust reckt sich, schon von weitem sichtbar, der 97 Meter hohe Turm der gotischen St.-Rombouts-Kathedrale  in Mechelen aus der flachen Landschaft im belgischen Flandern. Ähnlich wie der altbiblische Bau von Babylon legt auch dieser steinerne Riese Zeugnis ab von menschlicher Hoffahrt und deren Scheitern. 167 Meter hoch hatte der Koloss eigentlich werden sollen, die höchste Kirche der Christenheit und Ausdruck des Selbstbewusstseins einer stolzen und reichen Bürgerschaft. Das Ende des kühnen Vorhabens ist banal – Wilhelm von Oranien brauchte 1546 Steine und Mörtel für seine Festung Willemstad.

Trotzdem geht von St. Rombout , unüberhörbar, eine Botschaft aus. Alle 15 Minuten erklingen seine Glocken. Mal länger, mal kürzer, mal lauter, mal leiser. Zumeist mechanisch bewegt und über Lochbänder gesteuert. Am schönsten jedoch, wenn die beiden Spiele im Turm mit ihren je 49 Glocken und insgesamt 80 Tonnen Gewicht zwischen dem 20. Juni und 9. September jeden Montagabend von geübten Händen angeschlagen und ihre Töne zu einem Konzert vereint werden. Was den dann unten auf dem pittoresken Marktplatz versammelten Zuhörern geboten wird, reicht von der Klassik bis zum Pop – von Beethovens Mondscheinsonate über Dvoraks Slawische Tänze bis zu den Hits der Beatles und beliebten Musical-Melodien. „Ein Glockenspiel“, pflegte Jo Haazen immer gern zu sagen, „ist hart wie ein Drache und wild wie ein Teufel. Es gehört darum viel Gefühl dazu, um aus einem Teufel einen Engel zu machen“.

Die älteste und berühmteste der Welt

Jo Haazen, der heute 73-jährige, zartgliedrige Mann mit der silbernen Löwenmähne und dem gepflegten Bart weiß, wovon er spricht. Zwischen 1981 und 2010 war er Direktor und Lehrer an der Königlichen Glockenspielerschule von Mechelen – der  ältesten und wohl immer noch berühmtesten der Welt. 1922 war sie gegründet worden, nachdem der erste Weltkrieg schon früher aufgekommene Planungen zunächst zunichte gemacht hatte.

Fast logisch, dass es in dieser Region zwischen Brüssel und Antwerpen geschah. Denn hier in Flandern ist das Glockenspiel zu Hause. Mindestens 500 Jahre ununterbrochener Geschichte und Fortentwicklung lassen sich nachweisen. Bis zurück zu der bahnbrechenden Erfindung jener, dem Piano ähnlichen, Klaviatur durch Jan van Beveren 1487.  Von Mechelen aus nahm sie ihren Weg in die Welt. „Malinovi Zvon“ heißt beispielsweise Glockenspiel auf Russisch. Die exakte Übersetzung wäre „Glocken von Mechelen“ – was beweist, wie stark diese Kunstgattung weltweit von dem malerischen Städtchen im Flämischen aus beeinflusst wurde und noch immer wird.

Ein architektonisches Juwel

Jo Haazen

Das Eckhaus „Het Schipke“ (Das Schiffchen) unweit des Großen Marktes in der Frederik-de-Merode-Straat ist mit seiner hellen Fassade sowie den grünen Tür- und Fensterrahmen hübsch anzusehen. Ein architektonisches Juwel mehr in dieser an historischen Bauwerken so reichen Hauptstadt der einstigen Spanischen Niederlande. Hier residierte bis 2010 als unbestrittener Chef Jo Haazen, umgeben von Regalen mit mehr als 2000, bis zu 300 Jahre alten, Büchern in sämtlichen alten und neuen Kultursprachen über alles, was mit Glocken zusammenhängt. Gleich nebenan, im „Hof van Busleyden“, steht den Besuchern ein Museum mit wertvollen Sammlungen von Glocken, Klaviaturen aus den vergangenen Jahrhunderten, Manuskripten und vielen anderen Gegenständen offen.

Oben, in einem kleinen Raum, dessen Einrichtung mit Bänken und Pulten mehr dem Klassenzimmer einer Volksschule um 1890 als einer modernen Bildungsanstalt ähnelt, übt gerade ein Schüler aus Russland. Gefühlvoll schlägt er die hölzernen Pins der Klaviatur an. Ganz offensichtlich bemüht, der Mahnung des Meisters zu folgen, die da lautet, „Spiele immer für das Herz der Menschen. Alles muss durch die Liebe erreicht werden“. 2010 ist Koen Cosaert (55)  als Leiter der Schule in die Fußstapfen von Jo Haazen getreten. Auch er ist ein weltweit auftretender und bereits mit vielen internationalen Preisen ausgezeichneter Künstler. Zusammen mit fünf Dozentenkollegen unterrichtet er die stets etwa 60 Schülerinnen und Schüler aus so ziemlich aller Herren Länder.

Zehn Jahre Ausbildung

Fast überall auf der Welt wird für „Glockenspiel“ die französische Bezeichnung „Carillon“ verwendet. Wer das Instrument beherrscht, ist darum naturgemäß ein „Carilloneur“. Und wer es gar bis zum „diplomierten Carilloneur“ bringen möchte, muss hart und lange arbeiten. Zehn Jahre Ausbildung, sagt Cosaert, „sind keine Seltenheit“. Neben der Praxis steht die Theorie. Der Meister zählt auf: Glockengeschichte, Historie des Spielens, Bewegungs-, Harmonie- und Kompositionslehre sowie Chorgesang  und am Ende auch noch ein selbst komponiertes Stück. Dabei ist, wer in Mechelen angenommen wird, bei weitem kein Anfänger, sondern muss schon einiges Vorzeigbare geleitet haben. Verlangt wird zum Beispiel entweder ein Befähigungsnachweis von Musiklehre oder Instrumentalspiel (vorzugsweise Klavier, Orgel oder Clavicembalo) oder aber eine Zulassungsprüfung in diesen Fächern.

Einmal in der Woche ist im „Schipke“ für jeden Studierenden „Schule“, also Unterricht im ganz eigentlichen Sinne. Die übrigen Tage können frei eingeteilt werden; jeder besitzt einen Hausschlüssel und kommt, wann er will zum Üben. Am Ende der Lehrzeit steht schließlich ein Laureatszeugnis oder ein „Diplom der Vorzüglichkeit“, das dem Schüler (oder natürlich auch der Schülerin) nach bestandener Prüfung das Recht gibt, sich „Stadt-Glockenspieler“ zu nennen. Schließen die Absolventen eventuell daran noch eine weitere Qualifizierung an einem Konservatorium oder einer Musikhochschule an, können sie es bis zum „Meister“ bringen.

„Licht in die Tiefen der Seele“

Koen Cosaert

Koen Cosaert ist diesen Weg gegangen und Jo Haazen vor ihm. An dieser großartigen Einrichtung im kleinen flandrischen Mechelen. Es gibt kaum ein Festival rund um den Globus, auf dem sie nicht die Menschen mit ihrer Fertigkeit begeistert hätten, selbst tonnenschwere Bronze-Geläute zum Singen zu bringen. Besonders beim temperamentvollen, früheren Direktor der Glockenspielerschule merkt man beim Zuhören sehr schnell, dass für ihn Musik weit mehr ist als nur der virtuose Umgang mit Klängen. „Der Mensch“, sagte er einmal, „muss zu seinem Innersten vordringen – nach der wundervollen Devise von Robert Schumann: Ein Musiker soll Licht bringen in die Tiefen der Seele“.

Auch in Bonn hat Jo Haazen schon Glockenspiel-Kunst demonstriert. Bei einem Beethovenfest auf dem Münsterplatz. Bonn? Na klar doch – Bonn ist zwar die Geburtsstadt von Ludwig van Beethoven. Aber dessen Familie stammte ursprünglich aus Mechelen, wo der Großvater des Komponisten noch im Chor der St-Rombouts-Kathedrale gesungen hatte. Und auch heute noch leben in der kleinen Gemeinde Kampenhout, nur wenige Kilometer von Mechelen entfernt, Menschen, die den Namen Bethoven tragen…

Informationen:

Touristeninformation

Visit Mechelen

Vlesshouwerstraat 6

3800 Mechelen

Tel: 0032 15 297654

e-mail: visit@mechelen.be

Anreise:

Pkw über A 4 bis Aachen

E 40 über Lüttich oder

E 314 über Genk zum Brüsseler Ring

N1 Richtung Antwerpen

Ca. 20 Km Mechelen

Bahn Über Aachen nach Brüssel Süd

Von dort in kurzen Abständen Züge nach Mechelen

Dauer rd. 15 Minuten

Bahnhof Mechelen ist auch Haltestelle internationaler Züge

Flugzeug. Nationaler Flughafen Brüssel Zaventem.

Von dort in kurzen Intervallen entweder Bus oder Bahn bis Mechelen.

Fahrzeit rund 15 Minuten.

Glockenspielerschule:

Besuchszeiten für Gruppen bis 25 Personen (€ 75,–)

nach Vereinbarung täglich außer Mittwoch.

 

  

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