Geistige Abrissbirne statt aufrechter Gang
Von Günter Müchler

Als das G-7-Außenministertreffen zu planen war, hatte Annalena Baerbock eine gute Idee. Deutschland führte zu diesem Zeitpunkt den Vorsitz im Club der sieben wirtschaftsstärksten Staaten. Somit war die deutsche Außenamtschefin Gastgeberin. Sie beschloss, das Treffen solle nicht im funktionalen Berliner AA-Gebäude am Werderschen Markt stattfinden, und wählte stattdessen einen symbolträchtigen Ort – das Rathaus von Münster. 1648 war dort (und parallel im benachbarten Osnabrück) der verheerende Dreißigjährige Krieg auf dem Vertragswege beendet worden. Der G-7-Gipfel fand im Schatten eines neuen verheerenden Krieges statt, ein knappes Jahr nach dem russischen Einfall in der Ukraine. Die Beratungen in den Münsterschen Friedenssaal zu verlegen, war, wie gesagt, eine gute Idee. Eine schlechte Idee war dagegen, vor Beginn des Treffens ein historisches Kreuz aus dem Friedenssaal zu entfernen.
Von der Kreuzabnahme wollte Annalena Baerbock hernach nichts gewusst haben. Doch auch dann, wenn AA-Quartiermacher eigenmächtig vorgegangen sein sollten, bleibt ein schaler Beigeschmack. Beamte tun manchmal viel, manchmal wenig, aber immer handeln sie in der Absicht, es dem Chef oder der Chefin rechtzumachen. Unter dem christlichen Kreuz zu konferieren, werde Frau Baerbock nicht gefallen. So dachten sie wohl, als sie das historische Stück aus dem Sichtfeld der hohen Gäste verbannten.
Was ist das Problem mit dem Kreuz? Es zeigt den Leidensmann Jesus Christus, der sich foltern und demütigen ließ, um der Welt den Frieden zu bringen. So die Botschaft und so der christliche Glaube. Anders als Mohammed, der Stifter der islamischen Religion, war Christus kein Feldherr. Er eroberte nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit der Kraft des Wortes und der Botschaft der Liebe. Eine bessere Projektion könnten sich Politiker der Grünen-Partei doch eigentlich nicht ausdenken. Aber vielleicht ist das Problem ja gar nicht das Kreuz.
Rückblende: 2016 besuchten der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der deutschen katholischen Bischofskonferenz, Jerusalem. Auf dem Tempelberg und an der Klagemauer erschienen die beiden Würdenträger ohne das obligate Brustkreuz. Man habe es abgelegt, weil man friedensstiftend wirken wollte, sagte Bedford-Strohm, als es wegen der ungewohnten Kleiderordnung Kritik hagelte. Eine Unterwerfungsgeste warf man den beiden Jerusalem-Reisenden vor und schoss damit gewiss über das Ziel hinaus. Niemand konnte Marx und Bedford-Strohm die gute Absicht absprechen. Und natürlich hatten die Glaubensmänner kein Problem mit dem Kreuz. Nur fehlte ihnen der aufrechte Gang. Es war ein peinlicher Akt vorauseilenden Verhaltensgehorsams.
Die beiden Kirchenoberen waren und sind nicht die einzigen. In Zeiten, wo der Meinungskorridor massiv verengt wird, Zeitgeistagenturen in Kommunal- und Universitätsverwaltungen den Ton angeben und Opfe-Entrepreneure ihr Spiel treiben, ist der aufrechte Gang gefragter denn je. Der aufrechte Gang hat nichts Überhebliches oder Provozierendes. Er gehört zur Haltung des Citoyen, es abzulehnen, wie ein toter Fisch mit dem Strom zu schwimmen und sich vorschreiben zu lassen, wie er zu sprechen hat. Der selbstbewusste Bürger erkennt mit sicherem Instinkt, wann der Augenblick da ist, an dem er Farbe bekennen muss.
Von Jacques Chirac, dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten, gibt es folgende Anekdote. Chirac war noch Hausherr im Palais Élysée; es galt, Staatsgäste aus der Golfregion zu bewirten. Vor dem Festbankett erinnerten Berater den als passionierten Biertrinker bekannten Präsidenten, daran, dass Muslime keinen Alkohol trinken. Da wäre es doch eine schöne Geste, beim Bankett ganz auf Wein und Gerstensaft zu verzichten. Worauf Chirac antwortete, er habe nichts dagegen, wenn den Gästen Mineralwasser eingeschenkt werde.
Vor zwei Jahren gestattete sich der langjährige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ein warnendes Wort gegen die von linken Identitären betriebene Fragmentierung der Gesellschaft. Er erhielt dafür herbe Kritik seiner Parteioberen, aber auch viel Zuspruch. In allen positiven Briefen, die er erhalten habe, sei er wegen seines Mutes gelobt worden, erinnert sich Thierse und fragt: Wieso gehört bei uns inzwischen Mut dazu, seine Meinung zu äußern? Man könnte antworten: Weil viele Leute bequem sind, weil sie keine Lust haben, sich in den sozialen Netzwerken stigmatisieren zu lassen, weil sie lieber den Mund halten, als sich mit dem Mainstream anzulegen. Eine andere Erklärung trifft genauer ins Schwarze: Der aufrechte Gang gehört nicht zu den Haltungen, die von den Einrichtungen der Politischen Bildung in diesem Land für wichtig erachtet werden.
Erforderlich wäre ein ruhiges Selbstbewusstsein, eine Gelassenheit, die man hat, wenn man die Werte kennt, die es zu verteidigen gilt. Seit Friedrich Merz mit dem Vorschlag scheiterte, so etwas wie eine Leitkultur zu definieren, ist die Wertediskussion ein Noli-me-tangere in der Bundesrepublik. Niemand möchte sich die Finger verbrennen, und so kommt es, dass im Ausland angenommen wird, Deutschland habe an Werten außer LGBTQ nichts zu bieten. Wie tückisch die Regenbogenfahne am Mast der unterdessen zur Staatszielbeschreibung geronnenen „Vielfalt“ flattert, zeigte sich bei der Vertreibung der deutschen Fußballnationalelf aus dem katarische Serail. Vielfalt ist mehr als die Zusammensetzung einer Fernseh-Diskussionsrunde nach dem Kataster von Geschlecht und Hautfarbe. Wer sich zur Achtung anderer Kulturen bekennt, muss wissen, dass in anderen Kulturen andere Werte gelten. Diese kann man nicht im Handstreich dadurch ändern, dass man in einem mit Zeitgeistparolen lackierten Lufthansa-Flugzeug in die Golfregion jettet und den Arabern mal eben zeigt, wo Bartel den Most holt. Dem Unsympathen Infantino sei Dank, dass er die naiven Deutschen ins Messer lauf ließ.
Das Schlimme an den Umtrieben der „intersektionalen“ Frauen-Farbigen-Schwulen-Lobbyisten ist nicht, dass sie Reparationsleistungen für ihre Opfergruppen erpressen wollen. Das hat ja seinen nachvollziehbaren Sinn. Schlimmer ist die Bereitwilligkeit der breiten Öffentlichkeit, ihre Forderungen aufzunehmen. Postkoloniale, die alle Unzulänglichkeiten im sogenannten Globalen Süden als zu entschädigende Erblast des Westens deklarieren, finden an Deutschlands Universitäten und auch in Teilen der Politik geneigte Echoräume – und das, obwohl die Zeit deutschen Kolonialbesitzes glücklicherweise vor über hundert Jahren beendet wurde.
Womit wir bei Bismarck angelangt wären. Anders als im Fall des Münsteraner Kreuzes war Annalena Baerbock durchaus eingeweiht, als jetzt das „Bismarck-Zimmer“ im AA in „Salon der deutschen Einheit“ umgetauft wurde. Das wäre nicht weiter auffällig, hätte es nicht Methode. Der Kulturstaatsministerin im Kanzleramt, Claudia Roth, ebenfalls bei den Grünen beheimatet und zuständig u.a. für die schwer regierbare Stiftung Preußischer Kulturbesitz, fällt die anstehende Reform auch deshalb so schwer, weil sie preußisch und Kultur für eine toxische Verbindung hält. Die Abrissbirne von „Cancel Culture“ hat gegenwärtig viel mit den Preußen zu schaffen, auch an den Universitäten. An der Kölner Alma Mater wurde das traditionsreiche Orientalische Seminar umbenannt. Es heißt jetzt Institut für die Sprachen und Kulturen der islamisch geprägten Welt. Notwendig wurde die Umbenennung laut Katajun Amipur, Professorin für Islamwissenschaft und Rektoratsbeauftragten für Rassismuskritik an der Universität Köln, weil das Orientalische Seminar womöglich seine Existenz Bismarcks Wunsch verdankte, mehr Wissen über die Kolonien zu erlangen. Nun ruht Bismarck seit vielen Dezennien auf dem Schneckenberg von Friedrichsruh unter der Erde, und man wird annehmen dürfen, dass daher und auch mangels Kolonien seine Wünsche schon lange nicht mehr das Forschungs- und Lehrangebot des Seminars geprägt haben. Allein, es geht ums Prinzip. Der alte Name sei ein klarer Fall von „unsichtbarem“ Rassismus, belehrt die Rassismusbeauftrage. Er sei nur ein Beispiel dafür, „wie Universitäten rassistisches Wissen und Sprache in die Gesellschaft tragen“.
Natürlich ist Bismarck keine unumstrittene historische Persönlichkeit. Er hat Frankreich Elsass-Lothringen genommen und damit einen Revanchekrieg heraufbeschworen, der sich bald als Erster Weltkrieg einstellte und Bismarck-Reich zertrümmerte. Er hat die Sozialistengesetze erlassen und den Kulturkampf mit der katholischen Kirche befeuert. Aber unter seiner Federführung entstanden auch die meisten Sozialversicherungen, eine Pioniertat. Und er erklärte das Reich für saturiert, was keinem seiner Amtskollegen in Sankt Petersburg, London und Paris damals in den Sinn gekommen wäre. Kurz: Bismarck war ein großformatiger Politiker und wie alle seines Schlages ausgestattet mit Licht- und Schattenseiten. Aber das wollen die Reinheitsfanatiker nicht anerkennen. In ihrem Weltbild kommen das Gute und das Böse nur in scharfer Trennung vor. Und so werden sie weiterhin die Abrissbirne schwingen. Es sei denn, es hindern sie daran mutige Leute, die den aufrechten Gang noch nicht verlernt haben.
Dr. Günther Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.