Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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© Elisabetta Claudio

Die neueste Veröffentlichung der bekannten Autorin ist ein imaginärer Dialog mit ihrem verstorbenen Vater, der 1942 als junger Offizier in Mussolinis Truppen an der Ostfront gegen die Rote Armee kämpfte. Durch Putins Angriffskrieg erkennt sie, dass ihr Vater nicht -wie immer kolportiert- in Russland kämpfte, sondern in der Ukraine. Daraufhin sammelt sie die Fragen, die sie ihm nie zu stellen wagte. Die wenigen Berichte ihres Vaters entlarvt sie nach schmerzhaften Recherchen als Legenden, die er sich selbst – aber auch andere Zeitgenossen – zurechtgesponnen haben, um mit ihren Schuldgefühlen und ihrer faschistischen Verblendung weiterleben zu können. Sie sucht seine Weggefährten auf und lernt eine andere Seite von ihm kennen. Die Aufarbeitung der faschistischen Geschichtsepoche steckt in Italien noch in den Anfängen und der dort praktizierte Kommunismus ist fast verniedlicht. Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass sein schlimmstes Problem auf dem Rückzug kalte Füße waren.

Melandri streamt die brutalen Handy-Filmchen der Soldaten in den unsozialen Netzwerken, analysiert aber auch das Verhalten und die Faktenverdrehungen russischer Medienvertreter. Was hat sie sich da angetan! Mehr und mehr hat sie das Gefühl, dass sich Lebenslügen und Machtdemonstrationen wiederholen.  „Kalte Füße“ ist kein Roman, sondern eine Mischung aus Reflektion und Faktensammlung ohne eigentlich roten Faden oder Spannnungsbogen, aber umso schwerer erträglich. Putin summiert offenbar unter „Faschisten“ alle diejenigen, die sich auf ihr Nationalgefühl besinnen und einen selbständigen Weg gehen wollen. Sie kommt in ihrer, durch ständige Wiederholungen einzelner Satzfragmente sehr eindringlichen Montage zu dem Ergebnis, dass das Phänomen „Krieg“ von den Generationen, die nur Frieden kennen gelernt haben, kaum nachzuvollziehen ist, schon gar nicht als mögliche Problemlösung. „Wie werden wir uns verhalten, wenn der Krieg eines Tages keine Fernsehserie mehr ist, die wir von unseren Sesseln aus verfolgen, sondern der Fluch des echten Lebens?“ fragt sie in diesem zutiefst politischen Buch.

 

Francesca Melandri, geboren in Rom, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Melandri hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman »Alle, außer mir« wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

 
Verlag Klaus Wagenbach GmbH
Francesca Melandri
Kalte Füße
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Quartbuch. 17.9.2024
288 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag
Buch 24,– € / E-Book 19,99 €

ISBN 978-3-8031-3367-0

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