In Osteuropa wurde der moderne Fußball erfunden. Die Macht von Politik und Wirtschaft über den Sport besiegelten den Niedergang.

Es gibt die Theorie, dass jeder Gewinner einer Fußball-Weltmeisterschaft – abgesehen von Uruguay beim ersten Turnier 1930 – in irgendeiner Weise von der Welle großer ungarischer Trainer beeinflusst worden sei, die nach dem Ersten Weltkrieg über den Globus verstreut waren.

Trainer Viktor Maslov

Sie ist nicht vollkommen aus der Luft gegriffen, auch wenn einige skeptisch sind. Im Gegensatz dazu zweifelt niemand wirklich daran, dass das Gegenpressing, die vielleicht dominierende Spielweise der heutigen Zeit, ihren Ursprung in der Sowjetunion hat – und aus einem Freundschaftsspiel zwischen der deutschen Mannschaft von Viktoria Backnang und Dynamo Kiew im Jahr 1983 hervorging, das vom großen ukrainischen Trainer Walerij Lobanowskyj geleitet wurde. Das Pressing selbst, dessen Einführung in den 1960er Jahren als Geburtsstunde des modernen Fußballs angesehen werden kann, wurde vom russischen Trainer Wiktor Maslow entwickelt, der bei Torpedo Moskau und Dynamo Kiew große Erfolge feierte.

Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts suchte der Fußball im Osten nach Inspiration.

Und der Einfluss geht weit über diese Beispiele hinaus. Während des größten Teils des 20. Jahrhunderts suchte der Fußball im Osten nach Inspiration. In zwei sehr unterschiedlichen Perioden, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, war Osteuropa ein Leuchtturm der Modernität und des fortschrittlichen Denkens im Fußball. Doch bei der diesjährigen Weltmeisterschaft in Katar kommen nur drei der 32 qualifizierten Mannschaften aus dem ehemaligen kommunistischen Block und es ist 23 Jahre her, dass eine Vereinsmannschaft aus der Region das letzte Mal das Halbfinale der Champions League erreicht hat. Die Region, deren profilierteste Trainer nicht einmal mehr in der Nähe der Spitze des Fußballs sind, ist nur noch ein weiterer Produzent von Talenten für die reichen Ligen Westeuropas. Vom Schmelztiegel zum Ödland – Osteuropa hat eine Geschichte über die Macht von Politik und Wirtschaft zu erzählen, die das Schicksal des Sports bestimmen.

Selbst als die klügsten Köpfe Ungarn in den 1920er und 1930er Jahren verließen, versiegte der Strom ungarischer Talente nicht – die Rivalität zwischen zwei Budapester Giganten hielten ihn aufrecht: MTK, der Klub der assimilierten jüdischen Mittelschicht, und Ferencvaros, dessen Anhängerschaft größtenteils aus der Arbeiterklasse und ethnisch deutsch war. Doch dann mischte sich die Politik ein.

Der Verein MTK wurde von 1940 bis ’45 vom rechten Regime unter Miklos Horthy vom Spielgeschehen ausgeschlossen und Ferencvaros wurde von der kommunistischen Regierung, die 1947 die Macht übernahm, absichtlich heruntergewirtschaftet. Zwar brachte die Verstaatlichung kurzfristige Erfolge – am bemerkenswertesten ist der Einzug Ungarns ins Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954. Doch die beiden großen Quellen der Budapester Fußballkultur litten unter der massenhaften Abwanderung nach der sowjetischen Niederschlagung des Aufstands von 1956 und versiegten bald ganz. Der ungarische Fußball hat sich davon nie erholt.

Trainer Walerij Lobanowskyj © wikipedia Rob Croes, Nationaal Archief, Den Haag,

Nach dem Niedergang Ungarns verlagerte sich das Zentrum des osteuropäischen Fußballs in die Sowjetunion selbst. Maslow, ein onkelhafter Moskauer, bereitete dem in den 1960er Jahren den Boden. Aber es war Lobanowskyj, ein Mathematiker, der die Dinge wirklich vorantrieb. Er war ein Verfechter des Pressings und leistete zusammen mit dem Informatiker Anatoli Zelentsov Pionierarbeit bei der Anwendung von Computeranalysen in der Spielvorbereitung. Mit Dynamo Kiew holte er zwei Mal den Europapokal der Pokalsieger und er führte die Sowjetunion bei der Europameisterschaft 1988 ins Finale.

Mit dem wirtschaftlichen Niedergang verließen die begabtesten Spieler und Trainer die Region.

Doch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus ging diese Zeit zu Ende. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang verließen die begabtesten Spieler und Trainer die Region. Zudem wurde die staatliche Finanzierung für die Klubs und Akademien eingestellt. Die Infrastruktur des Klubfußballs wurde ausgehöhlt, gerade zu der Zeit, als die Champions League die Einnahmen für die Elite der Klubs erhöhte.

Die Auswirkungen waren verheerend. Bei der Weltmeisterschaft 1990 kamen vier der 24 Mannschaften aus dem Osten. Vier Jahre zuvor hatte Steaua Bukarest, der Verein der rumänischen Armee, den Europapokal der Landesmeister (dem Vorläufer der Champions League) gewonnen und 1989 erneut das Finale erreicht. Zwei Jahre später, als Jugoslawien in den Bürgerkrieg abrutschte, triumphierte Roter Stern Belgrad. Seitdem hat es keine serbische oder rumänische Mannschaft mehr geschafft, die Gruppenphase der Champions League zu überstehen. Im Fall von Steaua hat ein langwieriger Streit um die Besitzverhältnisse dazu geführt, dass es derzeit zwei Vereine gibt, die die Nachfolge des ursprünglichen Klubs beanspruchen.

Steaua ist ein extremes Beispiel, aber Korruption, Desorganisation und mangelnde Ressourcen sind generell das Problem des Fußballs im Osten. Sogar im ehemaligen Ostdeutschland gibt es ein krasses Missverhältnis zum Westen. Als Deutschland 2014 die Weltmeisterschaft gewann, stand nur ein einziger Spieler aus Ostdeutschland im Kader. In der Bundesliga spielen mit RB Leipzig und Union Berlin aktuell nur zwei Vereine aus dem Osten, die beide auf ihre Weise der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Region enthoben sind.

Eine Zeit lang schien Russland die große Hoffnung zu sein. CSKA Moskau (2005) und Zenit St. Petersburg (2008) gewannen den UEFA-Pokal, das zweitwichtigste Turnier des europäischen Fußballs. Die russische Nationalmannschaft erreichte 2008 mit packendem Fußball das Halbfinale der Europameisterschaft. Als 2011 der Putin-Verbündete Süleyman Kerimow den bis dahin unbekannten Verein FK Anji aus der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala kaufte und aufsehenerregende Stars verpflichtete, wurde der potenzielle Einfluss der russischen Oligarchen auf den Fußball deutlich.

Das 2011 eingeführte UEFA-Reglement zum finanziellen Fairplay schränkte die Investitionsmöglichkeiten ein.

Doch das im gleichen Jahr eingeführte UEFA-Reglement zum finanziellen Fairplay schränkte die Investitionsmöglichkeiten ein. Einige zogen es ohnehin vor, im Ausland zu investieren, wie Roman Abramowitsch bei Chelsea oder Dmitri Rybolowlew bei Monaco. Wollten sie sich profilieren und sich so einen gewissen Schutz vor den Machenschaften des Kremls sichern? Wollten sie ihr Vermögen in die westliche Wirtschaft einbinden und so ein gewisses Maß an Einfluss erlangen? Es bleibt ungewiss.

Die Fussball-WM in Katar findet ohne Russland statt © 3D Animation Production Company auf Pixabay.com

Auf jeden Fall zwang der Einbruch des Kalipreises Kerimow dazu, das Budget von Anji zu kürzen. Es folgte 2014 der Einmarsch Russlands auf der Krim und in Teile des Donbass. Selbst die darauf folgenden begrenzten Sanktionen hatten insbesondere auf den langjährigen Präsidenten von CSKA Auswirkungen, der erhebliche Geschäftsinteressen in der Ukraine hat. Die nach dem vollständigen Einmarsch in die Ukraine im Februar verhängten Sanktionen haben russische Investitionen in ausländische Vereine praktisch zum Erliegen gebracht.

Innerhalb Russlands waren die Folgen tiefgreifend. Es kam zu einem Exodus von Ausländern aus der russischen Liga: Die deutschen Trainer von Lokomotive Moskau und FK Krasnodar, Markus Gisdol und Daniel Farke, haben beispielsweise fast umgehend gekündigt. Das Land ist abgeschnitten, von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen und seine Vereine von den UEFA-Wettbewerben suspendiert. Vielleicht wird der staatliche Energiekonzern Gazprom, der früher die Champions League gesponsert hat, seine Mittel nun im eigenen Land investieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der russische Fußball in der Isolation verdorren wird.

Was bleibt vom großen Fußball des Ostens?

Was also bleibt vom großen Fußball des Ostens? Die Ukraine war trotz der Invasion nur ein Spiel von der Qualifikation für die Weltmeisterschaft entfernt und die Wiederaufnahme des Ligabetriebs im August, wenn auch mit Luftschutzprotokollen, wurde stolz als Beweis für die Rückkehr zur Normalität präsentiert. Ausnahmespieler können überall auftauchen: Eines der vielversprechendsten Talente des modernen Fußballs ist der 21-jährige georgische Flügelspieler Chwitscha Kwarazchhelia vom SSC Neapel. Die Balkanländer und die Ukraine bringen weiterhin Talente in großer Zahl hervor: In einem Bericht der CIES-Fußballbeobachtungsstelle wurden die Akademien von fünf osteuropäischen Klubs in diesem Jahr unter die acht besten in Europa eingestuft. Aber sie arbeiten hauptsächlich, um in den Westen zu verkaufen.

In Ungarn gab es in letzter Zeit eine kleine Wiederbelebung, dank einer Reihe von Steuererleichterungen, die Viktor Orbán, ein großer Fußballfan, den Vereinen gewährt hat. Mit Investitionen ist ein gewisser Erfolg möglich, zumindest auf nationaler Ebene. Was ohne sie passiert, sieht man in Bulgarien oder Rumänien, deren Nationalmannschaften bei der Weltmeisterschaft 1994 für Furore sorgten, heute aber fußballerisches Niemandsland sind.

Beim diesjährigen Turnier werden Kroatien (als beständiger Überflieger die große Ausnahme), Polen und Serbien ihr Bestes geben. Doch ihr Abschneiden unterstreicht vor allem, wie tief die Region gesunken ist. Fußball mag der universelle Sport sein, der für jeden zugänglich ist, der einen Ball hat. Aber leider zeigt die osteuropäische Erfahrung, dass er den Launen der Geschichte nicht entkommen kann.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.

Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer

Als Fußballkorrespondent schreibt Jonathan Wilson für diverse englische Zeitungen wie die Financial Times oder den Guardian. Er ist auch Buchautor. In seinem 2006 erschienenen Erstlingswerk Behind the Curtain. Football in Eastern Europe setzt er sich mit dem Fußball in Osteuropa auseinander.

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