Der kleine Prinz

Warum Emmanuel Macron nicht der große Erneuerer ist.

Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspraesident

Der französische Präsident Emmanuel Macron soll wegen seiner „kraftvollen Vision von einem neuen Europa“ den Karlspreis der Stadt Aachen erhalten. Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, pflegte einst der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt zu sagen. Macrons Vision, oder nennen wir es bescheidener: seine Vorstellungen von Europa, sind nicht allzu weit von denen seines vielgeschmähten Vorgängers François Hollande entfernt. Überhaupt erinnert vieles an eine uralte Forderung der französischen Linken, nämlich die Einführung einer europäischen „Wirtschaftsregierung“, die regelmäßig von allen deutschen Regierungen gleich welcher politischer Couleur abgelehnt wurde. Denn im Kern geht es auch Macron mit seiner Forderung nach einem Eurozonenbudget, einem europäischen Finanzminister und einem Eurozonen-Parlament bei aller Europarhetorik vor allem um Frankreich. Zu Ende gedacht führt seine „Vision“ im Zweifelsfall zu eben jener Transferunion, die Berlin bisher fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Das könnte sich mit einer Erneuerung der großen Koalition ändern, denn der eben wiedergewählte SPD-Vorsitzende Martin Schulz zeigte sich offen für Macrons Reformvorschläge. Doch ob sich in der EU eine Mehrheit dafür findet, ist fraglich, denn letztlich vertritt Macron die Interessen der südlichen Schuldnerländer, die auf eine Lockerung des von Merkel verordneten drastischen Austeritätsregimes hoffen. François Hollande hatte Merkel auf seine Forderung nach der Einführung sogenannter Eurobonds schließlich noch kühl beschieden: „Nicht, solange ich lebe“.

Die Zuerkennung des Karlspreises erinnert damit an den voreilig an Barack Obama vergebenen Friedensnobelpreis nach dem Motto: Schon gute Absichten müssen belohnt werden. Dabei wäre es leicht, die Vision mit praktischen Schritten vor der eigenen Haustür in die Tat umzusetzen: In der Oberrheinregion klagen deutsche Unternehmen über zunehmende bürokratische Hindernisse, wenn sie Dienstleistungen im Nachbarland erbringen wollen. „Ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für französische Anwälte“, nannte es der Europaabgeordnete Andreas Schwab, wenn „deutsche Handwerker jemandem Geld bezahlen müssen, der sie vertritt, den sie aber gar nicht brauchen“.

Nur noch 36 Prozent der Bürger zeigten sich mit dem Präsidenten zufrieden.

Bei den inneren Reformen ist Macron schon weiter, wobei es auch dort im Wesentlichen um die Umsetzung früherer Konzepte geht. Er hat den Fehler des Zauderers François Hollande vermieden, beim geringsten Widerstand einzuknicken und auf bessere Zeiten zu warten, die aber nie kamen. Die Arbeitsmarktreform ging überraschend glatt über die Bühne, vermutlich weil die Franzosen das ewige Trommelfeuer satt hatten, mit dem sie seit Jahrzehnten von allen Präsidenten seit Mitterrand bombardiert wurden, nach dem Motto: Wenn Frankreich nicht endlich reformiert wird, geht es unter. Und natürlich spielt unterschwellig auch das Unbehagen über die seit Ausbruch der Finanzkrise dominierenden Deutschen eine Rolle, die vorgemacht haben, wie man erfolgreich reformiert. Schließlich wollte man sicherlich auch dem frisch gewählten jungen Präsidenten einen Erfolg gönnen, der im Wahlkampf stark auf die Abgrenzung von seinen verbrauchten und nicht durchsetzungsfähigen Vorgängern gesetzt hatte.

Doch schon nach den ersten 100 Tagen im Amt gingen die Umfragewerte in den Keller. Nur noch 36 Prozent der Bürger zeigten sich mit dem Präsidenten zufrieden, das war selbst Hollande in so kurzer Zeit nicht passiert. Allerdings ist ein solch drastischer Einbruch der Wertschätzung jenseits des Rheins nichts Ungewöhnliches; die Franzosen heben schnell jemanden auf den Sockel, um ihn am nächsten Tag schon wieder herunterzuzerren. Das hat mit der französischen politischen Kultur zu tun, in der nach den Worten des Politologen Wolfgang Jäger „Staatsgläubigkeit und Revolution Zwillinge“ sind, so widerspruchsvoll das auch erscheinen mag.

Schon die Inszenierung am Abend seiner Wahl ließ ahnen, dass er gerne die Rolle des „republikanischen Monarchen“ einnehmen würde.

Macron verkörpert diesen Widerspruch nahezu vollkommen. Einerseits trat er als „unverbrauchter“ Repräsentant einer breiten Bürgerbewegung an, die das alte „Rechts-Links“-Schema aufbrach und vor allem Vertreter der Zivilgesellschaft als Parlamentskandidaten auf den Schild hob. Die der alten Parteienkungelei überdrüssigen Wähler honorierten diese Kampagne, die stark an das Motto „Mehr Demokratie wagen!“ von Willy Brandt erinnerte. Dass „La République en Marche“ (LRM) damit die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erhielt, ist allerdings nur dem französischen Wahlrecht zu verdanken. Im ersten Wahlgang erzielte Macrons Bewegung nur 28,2 Prozent der Stimmen, im zweiten 43,0 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 42,6 Prozent. Und ähnliches gilt ja für Macron selbst, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl mit 24,0 Prozent zwar an erster Stelle lag, dies aber vor allem der Schwäche der anderen Kandidaten und dem Abwehrreflex gegenüber Marine Le Pen verdankte. In der zweiten Runde siegte er deutlich, aber bei einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent. Demokratische Repräsentativität sieht anders aus.

Umso mehr nimmt Macron auf der anderen Seite mit sichtlichem Genuss die Prärogativen des Präsidentenamtes in Anspruch. Schon die Inszenierung am Abend seiner Wahl, als er ganz allein gemessenen Schrittes durch den Hof des Louvre ging, ließ ahnen, dass er gerne die Rolle des „republikanischen Monarchen“ einnehmen würde. Dazu passt auch, dass auf dem offiziellen Porträt, das zehntausende von Amtsstuben und Ratshäuser schmückt, die „Kriegsmemoiren“ von Charles de Gaulle auf dem Schreibtisch zu sehen sind. Der Begründer der V. Republik hatte aus seiner Abneigung gegen Parteien nie ein Hehl gemacht und sich stets direkt an das Volk gewandt. Und wie de Gaulle denkt auch Macron in Kategorien der Gefolgschaft, wenn er seiner unerfahrenen „Bewegung“ einen Vorsitzenden in Gestalt des Politprofi Christophe Castaner verordnet, der dann auch prompt einstimmig gewählt wird und entgegen allen Bekundungen wider die Ämterhäufung dennoch Minister bleiben darf. Das alles erinnert stark an den ersten sozialistischen Präsidenten François Mitterrand, der in der Opposition die Verfassung der V. Republik als „permanenten Staatsstreich“ bezeichnet hatte, als Präsident jedoch alle ihm zustehenden Rechte (und darüber hinaus) voll ausschöpfte.

Auch außenpolitisch kann man Macron durchaus in der Tradition von Mitterrand sehen, der sehr schnell „linke Visionen“ zugunsten realpolitischer Interessen geopfert hatte, wenn ihm dies notwendig erschien. Dies gilt vor allem für die Afrikapolitik, die in Frankreich eine ganz besondere Rolle spielt und die traditionell zur „domaine réservé“ des Präsidenten gehört. Macrons erster Auslandsbesuch galt nicht zufällig den französischen Truppen in Mali, die dort seit 2013 im Kampf gegen islamistische Terrorgruppen stehen, die damals fast das ganze Land erobert hätten. Es ist auch nicht bekannt, dass er das militärische Engagement in Afrika (neben Mali auch Zentralafrika und Tschad) zurückfahren wollte. Im Gegenteil schmiedet er neue Militärallianzen in Gestalt der G5-Sahel, einem Zusammenschluss der Länder Mauretanien, Senegal, Mali, Niger und Burkina-Faso, und versucht wie Hollande andere europäische Staaten, vor allem Deutschland, mit einzubeziehen.

In einer Grundsatzrede vor Studenten in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina-Faso, verkündete Macron am 28. November zwar das „Ende der französischen Afrikapolitik“, ließ aber offen, was damit konkret gemeint war. Damit blieb er hinter François Hollande zurück, der in einer ähnlichen Grundsatzrede in Dakar 2012 wesentlich konkreter das Ende der „Françafrique“ postuliert hatte, jenes diffusen und undurchschaubaren Geflechts von politischen, Sicherheits- und Geschäftsinteressen, das Frankreich bis heute mit seinen ehemaligen Kolonien in Afrika verbindet. Dass sich danach kaum etwas änderte (siehe Militärintervention in Mali nur ein Jahr später), lässt wenig Hoffnung zu, dass dies unter Macron anders sein würde. Und obwohl er sich in seiner Rede als verständnisvoller Vertreter der jungen Generation präsentierte, hörten die Studenten „über eineinhalb Stunden lang eine Diagnose von Professor Macron über Afrika und seine Probleme, und zwar so, als ob er in seiner Allwissenheit die Antworten auf ihre Probleme hätte“, so der frühere Diplomat Laurent Bigot in Le Monde.

Und noch in einem anderen Punkt blieb Macron der realpolitischen Tradition seiner Vorgänger treu: Bei seinem Besuch im Emirat Katar Anfang Dezember wurden Verträge im Wert von 12 Milliarden Euro unterzeichnet, unter anderem über den Verkauf von 12 Kampfflugzeugen und 490 Militärfahrzeugen. Vorwürfe ob dieser von ihm früher kritisierten Praktik wischte der Präsident mit der Bemerkung beiseite, es handle sich um „Verträge mit Staatsunternehmen, die Notwendigkeiten entsprechen.“ Ein Erneuerer hört sich anders an.

Dr. Winfried Veit ist Politikwissenschaftler und Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Freiburg. Er war bis 2011 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Referatsleiter für Osteuropa und Zentralasien sowie Leiter der Büros in Südafrika, Israel, Paris und Genf.

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