Der Hass des liberalen Sehnsuchtsorts

Kanada gilt als Leuchtfeuer der Toleranz, aber rassistische Gruppen sind auf dem Vormarsch – ermutigt werden sie durch die Ereignisse in den USA.

Amerikanisches Vorbild: die Proud Boys.

Während seiner ersten TV-Debatte mit Joe Biden hat Präsident Donald Trump mal wieder internationale Aufmerksamkeit erregt: Nicht nur weigerte er sich, Rassismus zu verdammen, sondern rief auch noch die Mitglieder der von Hass getriebenen Gruppierung Proud Boys dazu auf, „sich im Hintergrund zu halten und bereit zu stehen“ („stand back and stand by“). Viele Zuschauer wussten dabei wahrscheinlich nicht, dass die Proud Boys von Gavin McInnes gegründet wurden, einem in den Medien bekannten kanadischen Rechten.

US-Amerikaner, die scherzhaft mit dem Gedanken spielen, im Fall eines Trump-Sieges nach Kanada auszuwandern, denken dabei meist an den weltweiten Ruf, den das Land für seine Inklusion und Diversität hat. Aber trotz seiner weitgehend erfolgreichen multikulturellen Gesellschaft gibt es in Kanada auch eine beunruhigende und zunehmende Bedrohung durch weiße Rassisten.

Im letzten Monat bekam die zunehmende Gefahr durch Hassgruppen in Kanada neue Aufmerksamkeit, als ein 58-jähriger ehrenamtlicher Hausmeister vor seiner Moschee in Toronto erstochen wurde – vermutlich von einem Mann, der in den sozialen Medien mit Neonazis in Verbindung steht. Der Mord erinnerte an das Jahr 2017: Damals wurden bei einem schockierenden Angriff mit Schusswaffen auf friedliche Gläubige einer Moschee in Quebec sechs Menschen erschossen und 19 verletzt – durch einen Mann mit rechtsextremen, nationalistischen Ansichten.

Beide Verbrechen lösten im Land kurzzeitig Diskussionen über Islamophobie und den Terror weißer Rassisten aus und brachten unbequeme Wahrheiten über den verbreiteten Hass in Kanada ans Licht. Wer beispielsweise nach hasserfüllten Inhalten sucht, kann sie problemlos finden: Es gibt im Land tausende Kanäle rechter Extremisten, die weltweit elf Millionen Nutzer erreichen. Obwohl die über 300 bekannten kanadischen Hassgruppen meist lockerer organisiert sind als die ihrer amerikanischen Kollegen, sind ihre Ideologien doch größtenteils gleich.

Aber trotz seiner weitgehend erfolgreichen multikulturellen Gesellschaft gibt es in Kanada auch eine beunruhigende und zunehmende Bedrohung durch weiße Rassisten.

Wie viele Menschen in aller Welt haben auch die meisten Kanadier die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten mit echtem Abscheu verfolgt – von der Gewalt in Charlottesville bis hin zu Trumps Drohungen, das Militär gegen schwarze Demonstranten einzusetzen. Aber auch die Kanadier ringen mit ihren eigenen Formen rassistischer Ungerechtigkeit – mit dem Erbe des Kolonialismus und der anhaltenden Gewalt gegen die indigene Bevölkerung, zunehmenden Hassangriffen auf Asiaten während der Covid-19-Pandemie und dem von der Black-Lives-Matter-Bewegung angeprangerten Rassismus gegen Schwarze.

Auf jeden Fall gibt es in Kanada aktive Anhänger der Theorie der Überlegenheit der weißen Rasse, die für die Gesellschaft eindeutig ebenso schädlich sind wie die US-amerikanischen Hassgruppen südlich der Grenze. Warum fällt es den Kanadiern so schwer, gegen den gewalttätigen, rassistischen Hass vorzugehen – und gegen solche Gruppen, die auch bei ihnen zu Hause ein echtes Problem sind?

Ein Grund dafür ist zweifellos Kanadas starkes nationales Narrativ der Diversität und Inklusion. Die Kanadier sind stolz, in einem Land zu leben, in dem Unterschiede willkommen sind, und eine brodelnde weiße Bewegung zu akzeptieren, die die Überlegenheit der weißen Rasse vertritt, würde mit diesem Ideal kollidieren. Außerdem wird durch diese Bewegung klar, dass der Rassismus in Kanada ebenso gewalttätig und extrem ist wie in den USA – eine harte Erkenntnis für viele Kanadier, die ihren Erfolg oft daran messen, besser als die US-Amerikaner zu sein.

Ein weiterer Grund ist sicherlich die zögerliche Reaktion der gewählten Politiker und Regierungsinstitutionen. Aus Angst, Wähler vor den Kopf zu stoßen, weigern sich einige Politiker, die Existenz eines systemimmanenten Rassismus in Kanada wahrzunehmen. Andere – wie auch der amtierende Ministerpräsident Justin Trudeau – erkennen zwar das Thema an, zögern aber, gegen Hassgruppen konkrete Maßnahmen zu treffen.

Nach dem Mord in Toronto steht Trudeau erneut unter Druck, gegen diese Organisationen vorzugehen. Eine große Koalition von Glaubensgemeinschaften und Menschenrechtsgruppen will die kanadische Regierung auffordern, einen Plan zu entwickeln, um den Vertretern der Ideologie der weißen Überlegenheit im ganzen Land entgegenzutreten. Erneut versprach Trudeau, mehr zu tun, um das Problem zu lösen, nannte aber keine Details.

Aus Angst, Wähler vor den Kopf zu stoßen, weigern sich einige Politiker, die Existenz eines systemimmanenten Rassismus in Kanada wahrzunehmen.

Auch im kanadischen Militär gibt es solche Gruppen, und auch dort besteht ein Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität. Kürzlich wurden die kanadischen Truppen weltweit gelobt, weil sie sich durch einen viralen Tweet öffentlich von Hass und Rassismus distanzierten, indem sie unter dem Hashtag #ProudBoys die Rechte der LGBTQ-Gemeinde feierten.

Aber hinter dieser Öffentlichkeitsarbeit steht die Tatsache, dass Hassgruppen auch im kanadischen Militär Fuß gefasst haben, und Soldaten, die ihnen angehören, oft mit einem blauen Auge davonkommen. In einem berüchtigten Fall wurde ein Marineangehöriger als aktives Mitglied der terroristischen Neonazigruppe Blood and Honour entlarvt. Er war dabei gefilmt worden, wie er versuchte, militärische Waffen an Hassgruppen zu verkaufen. Trotzdem wurde er danach wieder in die Marine aufgenommen.

Zur kognitiven Dissonanz innerhalb der kanadischen Institutionen kommt noch hinzu, dass es in Kanada auch von Gesetz her schwierig ist, Hassverbrechen zu bestrafen. Über solche Verbrechen wird in Kanada viel zu wenig berichtet – und selbst wenn sie die Aufmerksamkeit der Polizei erregen, werden oft nur die schlimmsten Fälle bestraft, bei denen es um die Verbreitung von Hass oder den Aufruf zum Völkermord geht. Viele Aktivitäten in Gruppen, die die Überlegenheit der Weißen propagieren, bleiben unterhalb dieser Schwelle oder finden in Online-Umgebungen weitgehend außerhalb polizeilicher Kontrolle statt.

Und am wichtigsten ist vielleicht, dass Kanada gezögert hat, die Social-Media-Konzerne zu verpflichten, hasserfüllte Inhalte aus ihren Netzwerken zu entfernen. Nach den Anschlägen im neuseeländischen Christchurch von 2017 versprach die Regierung zwar, gegen Online-Extremismus vorzugehen, entschied sich dann aber nicht für Regeln, sondern für freiwillige Maßnahmen. Letztes Jahr versicherte Trudeau insbesondere, die Plattformen der sozialen Medien dazu verpflichten zu wollen, Hasskommentare innerhalb von 24 Stunden zu entfernen, aber dies wurde bis dato noch nicht gesetzlich untermauert. Bis die Regierung dies regelt, ist es unwahrscheinlich, dass sich bei der Verbreitung von Online-Hass wirklich etwas verändert.

Insgesamt geben diese Gesetzeslücken den rassistischen Gruppen Raum, ihre Hassbotschaften in Kanada zu verbreiten. Ermutigt durch einen gefährlichen Präsidenten, sind bewaffnete Hass- und Neonazi-Organisationen in den Vereinigten Staaten im Aufwind. Die kanadische Regierung ignoriert diese Bedrohung auf eigene Gefahr.

Jordan Leichnitz ist Programmverantwortliche für transatlantische Beziehungen und Kanada des Washingtoner Büros der Friedrichrich-Ebert-Stiftung.

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