Das Leben kostet viel Zeit
Rezension von Dr. Aide Rehbaum
Jens Sparschuh: Das Leben kostet viel Zeit

Der Autor Jens Sparschuh kann eine ganze Reihe Veröffentlichungen vorweisen. Diesmal hat er sich als Schauplatz eine Seniorenresidenz am Stadtrand von Berlin ausgesucht. Im Auftrag eines Kleinunternehmens für Auftragsbiografien und Firmengeschichten geht hier täglich der ehemalige Journalist Titus Brose unter den Bewohnern und deren Kindern auf Kundenfang.
Natürlich ist das Setting übertrieben und konzentriert. Sowohl die Gedankengänge und Überzeugungen in der Ghostwriterbranche als auch in einer derartigen Unterkunft sind jedoch sehr zutreffend beschrieben. Ganz offensichtlich hat der Autor Insiderinformationen.
Entsprechend seiner potentiellen Erzähler von Lebensgeschichten passiert nur wenig in dieser Umgebung. Die Mahlzeiten sind Höhepunkte der gleichförmigen Tage. Mal flüchtet eine demente Bewohnerin, mal erfährt der Leser zusammenhanglose Bruchstücke aus einem Leben, mal trifft man sich zum Gedächtnistraining. Anschaulich, einfühlsam und humorvoll werden die unterschiedlichen Charaktere beschrieben und beurteilt. Am Ende entwickelt sich der Mensch rückwärts und nähert sich den Betrachtungen und Interessen seiner Kindheit an.
Nur ein Heiminsasse hat seine Bücher mitgebracht und lebt seinen Ambitionen wie auf einer Insel, Dr. Einhorn. Der Klappentext führt etwas in die Irre, da er den Eindruck hervorruft, zentrales Thema sei die Entwicklung einer spannenden Recherchereise auf den Spuren eines berühmten Dichters. Erst ganz am Ende des Buches fasst Einhorn, der aus seinem Berufsleben Materialien für eine Biografie über Adalbert v. Chamisso gerettet hat, Vertrauen zu Brose und schickt ihn zur Klärung einer Forschungsfrage ins Stadtarchiv Leipzig. Die Lösung ist aber gänzlich marginal.
Der Roman kreist um die Fragen, was Erinnerungen beeinflusst. Wie werden sie bewusst oder unbewusst verändert, frisiert, selektiert und warum wird Trauriges, Komisches oder Banales vom Hirn gespeichert?
Jens Sparschuh, geboren 1955 in Karl-Marx-Stadt, studierte von 1973–1978 Philosophie und Logik in Leningrad. 1983 promovierte er in Berlin, seitdem arbeitet er freiberuflich. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen und Kinderbüchern. 2009 erschien »Putz- und Flickstunde« (zusammen mit Sten Nadolny). 1989 erhielt er den Hörspielpreis der Kriegsblinden.
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-04997-8
Erschienen am: 15.02.2018
384 Seiten, gebunden mit SU
Deutschland 20,00 €
Österreich 20,60 €
Titelfoto: Peter Peitsch