Von Wolfgang Bergsdorf

 

Autor Wolfgang Bergsdorf

Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, ist ein sachorientierter, seine Emotionen beherrschender Mensch. Unlängst ist ihm aber der Kragen geplatzt. In einer Videokonferenz mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) präsentierte er die aktuellen Corona-Infektionszahlen von diesem Tag – 15 000 neue Fälle. Von diesen werden 0,9 Prozent, das sind 400 Menschen, sterben. Anders als im ersten Jahr der Pandemie, in dem es noch keinen Impfstoff gab, könnten diese Menschen am Leben bleiben. Ihr Tod wäre vermeidbar gewesen, wenn sie sich hätten impfen lassen. Wer das nicht tut, muss mit einer zehn mal höheren Wahrscheinlichkeit rechnen, eine Corona-Ansteckung mit schwerem Verlauf zu erhalten und daran zu sterben. Soeben hat die die Zahl der Corona-Toten in Deutschland die traurige Rekordmarke von 100 000 überschreiten.

Bis zum Start der Impfkampagne im Frühjahr hatten internationale Beobachter und auch die Deutschen selbst den Eindruck gewonnen, ihr Land bewältige dank der Anti Corona-Maßnahmen der Politik die Seuche besser als andere Staaten. Dies wurde damals den Regierenden gutgeschrieben. Das hat sich mittlerweile geändert. Das Vertrauen in das Krisenmanagement vor allem der Unionsparteien ist dramatisch eingebrochen und hat die Wahlniederlage im September mit verursacht.

Die Explosion der Infektionszahlen in der vierten Welle der Pandemie zeigt jene Dramatik, vor der uns die Virologen seit Monaten warnten, ohne dass die Politik den Mut aufgebracht hätte, wirksame Gegenmaßnahmen rechtzeitig zu treffen. Dass die künftige Ampelkoalition angesichts der aktuellen Corona-Daten mit bundesweiten Inzidenzien von über 400 „die epidemische Lage von nationaler Tragweite“ nun auslaufen ließ und die Bundesländer damit zwang, dem neuen Gesetz mit verminderten Eingriffmöglichkeiten zuzustimmen, könnte als Witz bezeichnet werden, wenn es nicht so ernst wäre.

Die Politik versucht den Eindruck zu vermeiden, uns stünde das Schlimmste noch bevor. Ab sofort gelte es, möglichst wenige Menschen durch Einschränkungen zu verärgern. Wie gehen andere Länder mit dem Problem um? Portugal, Spanien und Frankreich haben deutlich höhere Impfquoten als die Deutschen mit nur 67 Prozent vollständig Geimpften. Im internationalen Vergleich fällt auf, dass die deutschsprachigen Regionen – also neben Deutschland, Österreich, der Schweiz auch Südtirol – deutlich geringere Impfquoten melden als westliche und nördliche EU-Staaten.
Ja, es scheint gerade so, als ob der Alpenraum als Hort von Impfgegnern auffallen wolle, indem sich extremer Individualismus mit grundsätzlicher Staatsskepsis verbindet. Wenn man die unterschiedlichen Regionen in Deutschland betrachtet, dann fallen neben Baden-Württemberg die drei Freistaaten Bayern, Thüringen und Sachsen durch niedrige Impfquoten auf. So ist es nicht verwunderlich, dass dort auch die Landkreise mit den höchsten Inzidenzwerten von über 12 000 liegen.

Das Institut für Demoskopie Allensbach hat in der vergangenen Woche einen Blick auf die unterschiedlichen Ansichten von Geimpften (70 Prozent) und Ungeimpften (30 Prozent) geworfen. Diejenigen, die nicht immunisiert sind und dies auch nicht tun wollen, kommen überdurchschnittlich aus sozial schwächeren und bildungsferneren Schichten. Das trifft auf 21 Prozent der Geimpften, aber auf 47 Prozent der Ungeimpften zu. Geimpfte und Verweigerer unterscheiden sich auch in ihrer politischen Orientierung, in ihrer Weltsicht und im Vertrauen zu Institutionen. Während zum Beispiel 59 Prozent der Geimpften CDU/CSU oder SPD auf den ersten Platz ihrer Parteien- Sympathien setzen, sind es bei den Ungeimpften nur 18 Prozent. Diese bevorzugen überdurchschnittlich die rechtspopulistische AfD.

Man kann dieses merkwürdige Phänomen auch bei der aktuellen Fernseh-Berichterstattung aus dem Bundestag beobachten. Abgeordnete der AfD, die keinen Mundschutz tragen, müssen das Geschehen von den Besuchertribünen aus verfolgen. Ein hoher AfD-Funktionär schätzt, dass mehr als die Hälfte der Mitglieder dieser Partei ungeimpft sind. Das könnte dazu führen, dass der für Anfang Dezember geplante AfD- Bundesparteitag in Wiesbaden platzt, weil in Hessen dann mindestens die 2G-Regel gilt und es keine Anzeichen gibt, nach denen sich die AfD-Mitglieder den Schutzregeln unterwerfen.

Es ist ja auch auffällig, wenn überall überall dort, wo die AfD relativ stark ist, die Ansteckungsgefahr viel höher ist als anderswo, weil dort weniger geimpft wird. In Sachsen zum Beispiel liegt die Inzidenz bei Geimpften derzeit bei 64, bei Ungeimpften klettert sie auf mehr als 1800. Das führt zu einer Überbelastung der Intensivstationen und Beatmungskapazitäten.

Angesichts der glasklaren Aufforderung dieser und anderer Zahlen zum Impfen stellt sich der Beobachter die Frage, warum in Deutschland die Impfkampagne ins Stocken geraten ist. Dagegen zum Beispiel hat Brasilien mit der nach den USA höchsten Corona-Todesrate große Fortschritte gemacht, so dass man schon jetzt an die Zeit nach Corona denken kann. Für die Impf-Lücken in Deutschland gibt es sicherlich viele Gründe. Einer davon ist die in der Corona-Krise noch zusätzlich gewachsene Skepsis der Menschen gegenüber der Wissenschaft, der Medizin und allen Naturwissenschaften.
Andererseits wimmelt es dort heute geradezu an selbst ernannten Fachleuten, die ihr Bauchgefühl zum Urteilsmaßstab nehmen. Wer indessen den Nutzen von Impfen grundsätzlich ignoriert, nimmt auch nicht zur Kenntnis, wie es dank weltweiter Kampagnen gelang, die großen Seuchen der vergangenen Jahrhunderte wie Pocken, Mumps, Röteln, Masern, Kinderlähmung, Diphtherie, Hepatitis B und Tuberkulose auszurotten. Diese Aktionen, die teilweise in der Regie der Weltgesundheitsorganisation (WHO)durchgeführt wurden, haben eine “Herdenimmunität” von etwa 90 Prozent der jeweiligen Bevölkerung erreicht und damit zum Verschwinden der epidemischen Krankheiten geführt.

Die WHO zählt übrigens die Impfverweigerung zu den 10 größten Gefahren für die Gesundheit der Menschheit. Das Pieksen war nie populär.Seit Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Massenimpfungen (gegen Pocken) durchgeführt wurden, gab es immer wieder Widerstände mit Einwänden wie wir sie auch heute kennen: Medizinische (zu wenig erprobt, zu wenig wirksam), juristische (Zwangseingriffe in das Persönlichkeitsrecht), weltanschauliche, (widernatürliche Manipulationen) und religiöse (Verkennung von Gottes Willen).

1874 wurde in Deutschland das erste Reichsimpfgesetz (auch wegen Pocken) verabschiedet, das später von den Nazis als von jüdischen Abgeordneten ausgearbeitet diskreditiert wurde. Denn Eugen Dührig, ein Vorläufer der Nationalsozialisten, behauptete 1881 in seiner Kampfschrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“: „Das Impfen ist ein Aberglaube, von jüdischen Ärzten aus Gründen der persönlichen Bereicherung erfunden“. Dass gegenwärtig der Widerstand gegen Impfen zunimmt, obwohl die Sera immer wirksamer werden, ist nicht zuletzt auch systematischer Desinformation zu verdanken, an der auf Twitter so genannte Bots, aber auch russische “Trolle” beteiligt sind.

Die Impfstoffe gegen Covid 19 konnten deshalb in kürzester Zeit entwickelt werden, weil bereits vorher mit mRNA als Basis weit gehende Erfahrungen gesammelt worden waren. Auf dieser Grundlage werden in Zukunft wirksame Medikamente gegen AIDS (HIV), Krebstumore oder Malaria entwickelt werden können, Das ist jedenfalls die große Hoffnung der Wissenschaftler. Mit den Impfstoffen gegen Covid 19 gibt es mittlerweile eine milliardenfache Erprobung. Das ist wahrscheinlich das am gründlichsten erprobte Vakzim überhaupt. Wenn indes ein Viertel unserer Bevölkerung dennoch die Immunisierung verweigert, dann ist “Herdenimmunität” nicht zu erreichen.

Ein zweiter, sehr deutscher, Grund für den mangelnden Erfolg der Impf-Kampagne ist in jener “Tyrannei” von Minderheiten zu erkennen, die anderen Minoritäten jederzeit sowie jeglicher Art und Färbung einen hervorgehobenen Schutz angedeihen lässt. Auf eher harmlose Weise haben wir das in den vergangenen Jahren bei der so genannten Gender-Politik erlebt, bei der sich eine kleine Zahl von Aktivisten nicht von den Ansichten der Mehrheiten beeindrucken lässt. Aber auch die breite Öffentlichkeit, die Medien und der Staat haben sie gewähren lassen – nicht selten sogar gefördert.

Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Jetzt erleben wir diese Diktatur der Minderheiten in einer gefährlichen und manchmal sogar tödlichen Weise bei der Impfverweigerung. Dieser von der tyrannischen Minderheit als „repressiv“ verunglimpfte Staat hat nicht zuletzt dieser Gruppe mit seiner als liberale Großzügigkeit missverstandenen Haltung in der Anti-Coronapolitik weite Spielräume gelassen. Die deutsche Politik muss aber jetzt endlich den Mut aufbringen, diese Tyrannei der Minderheit zu brechen und eine Impfpflicht einzuführen, wie es uns unsere Nachbarn in Österreich vormachen.

Die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler und auch die (Noch-)Kanzlerin Angela Merkel, die in der Vergangenheit die Voraussagen der Wissenschaftler in der Krise richtig einzuschätzen wusste, warnen davor, dass der Höhepunkt der Pandemie noch lange nicht erreicht ist. Führende Virologen wie Professor Drosten sehen eine Chance zur Überwindung der Pandemie nur in der Schließung der Impf-Lücken. Ansonsten müssen wir in Kürze mit der Funktionsunfähigkeit der Intensivstationen rechnen, wie dies jetzt schon in Sachsen, Thüringen und Bayern der Fall ist.
Bei einer Pandemie des Ausmaßes von Corona kann nur ein Eremit von Eigenverantwortung sprechen. Sobald er die selbstgewählte Isolation verlässt und in einen Kontext mit anderen Menschen eintaucht, übernimmt er auch Verantwortung für andere – ob er das nun will oder nicht. Von Solidarität ist hierzulande zu wenig zu spüren. Aber ohne eine solche praktizierte und umfassende Solidarität, die angesichts der zu großen Zahl von Impf-Gegnern zu einer Impf- Pflicht führen muss, werden wir der Pandemie nicht Herr werden.
Die von der Pandemie besonders betroffenen Ministerpräsidenten Bayerns und Baden-Württembergs haben mit ihrem gemeinsamen Plädoyer für eine allgemeine Impfpflicht das Tor für eine notwendige Diskussion aufgestoßen. Der eine ist ein Tiefschwarzer, der andere ein Dunkelgrüner. Die müssten doch wirklich “follower” finden.

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf (Jg.1941) ist nicht nur Politologe, sondern war, unter anderem als Mitglied von Helmut Kohls so genanntem „Küchenkabinet“, jahrelang selbst aktiv am politischen Geschehen beteiligt.  Zudem war Bergsdorf in der Regierungszeit Kohls Leiter der Inlandsabteilung des Bundespresseamtes und anschließend Chef der Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums. 1987 war er zum außerplanmäßigen Professor für Politische Wissenschaften an der Bonner Universität ernannt worden. Von 2000 bis 2007 amtierte er als Präsident der Universität Erfurt.

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