„Weh dir, dass du ein Enkel bist!“
von Günter Müchler

Auf keine innerparteiliche Gruppe konnte sich Friedrich Merz in der Vergangenheit so fest verlassen wie auf die Junge Union. Jetzt ist es ausgerechnet der Parteinachwuchs, der ihm die Leviten liest. Zu wenig Mut, zu viel Spielraum für die SPD im Bremserhäuschen. Zwar kann von einem Bruch der Loyalität nicht die Rede sein. Aber die Enttäuschung der Jungen ist spürbar. Und verständlich ist sie auch. Denn boomende Staatsschulden plus bescheidener Reformeifer nützen nur den „haves“, den Alten und Mittelalten, die mit den Zuständen zurechtkommen und Veränderungen fürchten. Die, die in die Röhre schauen, sind die „haves not“, die Enkel, deren Zukunft sich mehr und mehr verdüstert. Zugleich sind sie es, die Jungen, von denen erwartet wird, dass sie demnächst für die Landesverteidigung ihren Kopf hinhalten.
„Weh dir, dass du ein Enkel bist!“ Die Zeile stammt aus dem „Faust“. Für den Ankläger Mephistopheles sind die Politiker allesamt Schwachmatiker. Ihre Schuld besteht darin, dass sie aus Bequemlichkeit Gewohnheiten fortschreiben, bemooste Gesetze nicht antasten und Verfallsdaten ignorieren. Was aus dieser Einstellung folgt, fasst Mephistopheles so zusammen: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“. Die Enkel haben nichts zu hoffen.
Goethe erklärt mit diesem Bild ziemlich genau, warum und woran es bei der Rente, einem zentralen Baustein in der Zukunftsvorsorge der Jungen, hakt. Als die Dynamische Rente 1957 unter Konrad Adenauer eingeführt wurde, war sie eine Wohltat. Sie koppelte die Bezüge der Älteren an die Lohnentwicklung, was ihnen erlaubte, an den Segnungen des damaligen Wirtschaftswunders teilzuhaben.
In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde viel an der Rente herumgedoktert. Es blieb jedoch bei der Grundrechenart. Der sogenannte Generationenvertrag ist ein Umlageverfahren, nach dem die Aktiven mit ihren Beiträgen die Einkünfte der nicht mehr Aktiven finanzieren. Die Logik des Systems unterstellt ein Gleichgewicht. Solange genügend Einzahler da sind, funktioniert das System. Ist das nicht mehr der Fall, gerät es aus den Fugen. Es sei denn, es wird an wichtigen Stellschrauben gedreht: Die Beiträge werden angehoben und/oder die Leistungen gekürzt.
Die Rechnung stimmt schon lange nicht mehr, und niemand kann sagen, er habe das nicht kommen sehen. Die demographische Entwicklung, die Hauptursache der Gleichgewichtsstörung, ist eine Schicksalsuhr. Ihre Anzeige kann jeder lesen, sie lässt nicht schönfärben noch missverstehen. Ihr Zeiger tickt langsam, aber unerbittlich voran, ungefähr so, wie ein Fluss sein Bett verschiebt. Den Stand von heute konnte man schon gestern und vorgestern absehen. Und den von morgen und übermorgen vorherzusagen, braucht keine Glaskugel.
Zahlen dokumentieren die Dramatik der Entwicklung. Kamen 1957 bei der Einführung der Dynamischen Rente 373 Beitragszahlende auf 100 Leistungsempfänger, waren es 2023 nur noch 220. Und das Unverhältnis wird immer krasser. Nach Berechnungen der Deutschen Rentenversicherung werden im Jahr 2045 nur noch 174 Beitragszahler auf 100 Rentner kommen. Ohne Zuwanderung sähe es noch schlechter aus.
Zuwanderung werden wir auch in der Zukunft brauchen. Sie wird jedoch nicht ausreichen, die Gewichte auf der Waage des Umlagesystems auszutarieren. Denn die Menschen hierzulande werden älter. Noch einmal zurück auf das Jahr 1957: Beim Start der Dynamischen Rente lag die Lebenserwartung der Neugeboren bei 67,6 Jahren (Jungen) beziehungsweise 73,8 Jahren (Mädchen). 2024 war sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf 78,9 beziehungsweise 83,5 Jahre gestiegen. Für die Einzahler bedeutet das: Ihre Beiträge müssen nicht nur für eine höhere Zahl von Leistungsempfängern reichen, sondern auch für eine um zehn Jahre längere Zeit. Und Besserung ist nicht in Sicht. Die Geburtenrate in der Bundesrepublik erreichte 2024 mit 1,35 Kindern pro Frau einen Tiefstand. 1957 hatte die Durchschnittsfrau noch 2,5 Kinder zur Welt gebracht.
Das alles ist kein Geheimwissen. Die Politiker kennen die Zahlen. Doch den Tsunami vor Augen, haben sie weggesehen, Gewiss, es gab Ausnahmen. Anfang der Zehnerjahre wurde der Renteneintritt mit 67 beschlossen, auf Vorschlag des Bundesarbeitsministers Franz Müntefering, SPD (!). 2031 soll er greifen. Indessen wurde der vernünftige Schritt sogleich konterkariert: Die Rente mit 63 (nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei) wirkt auf die bekannte Notlage so, als würde man Rettungssanitätern das Auto wegnehmen. Der Tatbestand des Geisterfahrens bei vollem Bewusstsein liegt auch bei der Abschaffung des „Nachhaltigkeitsfaktors“ vor. Er war eingeführt worden, um mit Rücksicht auf das Älterwerden ein wenig Tempo aus der Rentensteigerung herauszunehmen.
Quer zur Richtung des Handlungsdrucks läuft auch das Zeitgeist-Verlangen nach immer mehr Freizeit. Wiederum kann man nicht behaupten, es hätte an frühzeitigen Warnungen gefehlt. Es war nota bene Oskar Lafontaine, der 1995, damals gehörte er noch der SPD an und war Ministerpräsident des Saarlands, erklärte: „Wir können auf die ständig steigende Lebenserwartung nicht mit immer kürzerer Arbeitszeit reagieren“. Um den Standpunkt intellektuell nachzuvollziehen, braucht man kein abgeschlossenes Volkswirtschaftsstudium. Trotzdem und entgegen aller Vernunft rangiert die Forderung nach besserer „work-life-balance“ unverändert im Prime-Segment des Zeitgeistes. Was nur bestätigt, dass der Zeitgeist ein Gaul ist, auf den man beim Galopprennen besser nicht wetten sollte.
Die Lebenschancen der Enkel werden konsequent geschrumpft. Weshalb ist das so? Wer Politikerreden liest, findet darin regelmäßige Anrufungen des Generationenvertrags, den es zu bewahren oder gar zu stärken gelte. Der Wechsel wird von der politischen Praxis nicht quittiert. Ein einsamer Rufer in der Wüste war Kurt Biedenkopf. Mit seinem Buch „Die Ausbeutung der Enkel. Plädoyer für die Rückkehr zur Vernunft“ sorgte der langjährige sächsische Ministerpräsident 2006 für einen Moment der Infragestellung. Der CDU-Politiker rief die Enkel dazu auf, sich selbst zu ermächtigen und gegen die Problemverdrängung durch die „Vormünder“ aufzustehen. Der publizistische Vorstoß blieb die Ausnahme und konnte an dem Sachverhalt nichts ändern: Die Enkel haben keine Lobby.
Damit ist schon fast alles gesagt. Ja, wenn die Enkel Bataillone hinter sich hätten wie der Feminismus! Aber wer hat schon von „Awareness“-Programmen für die junge Generation oder von einer Enkel-Quote gehört? Als neulich bei einer Anhörung zum Thema Wehrpflicht ein paar Zwanzigjährige dabei sein durften, galt das bereits als bemerkenswertes Entgegenkommen. Politiker reagieren meist auf Druck, und Druck wird erzeugt durch starke Hilfstruppen. Wer solche nicht hinter sich weiß, hat schlechte Karten. Heiner Geißler, ehemals CDU-Generalsekretär, erkannte das und erfand deshalb in den siebziger Jahren die „Neue Soziale Frage“. Sie gründete auf der Wahrnehmung, dass die bekannten Lautsprecher der formierten Gesellschaft – Gewerkschaften, Wirtschaft, Sozialverbände – bestimmte Gruppen einfach nicht auf dem Radar hatten. Verlangt wurde eine Neujustierung. Allerdings kamen die Enkel in der Aufzählung der Unterversorgten nicht vor.
Freilich muss man sagen, dass die Enkel auch nie etwas für sich selbst getan haben. Dabei waren und sind sie bereit, sich zu engagieren, oft genug bis zur Militanz. Aber die Ziele pflückten und pflücken sie mit Vorliebe im Vagen, im Universalen. So kämpften die 68er gegen Atomkraft und Nachrüstung. Ihre Nachfolger wollen den Planeten retten. Aktivisten von „fridays for future“, kleben sich fest auf Straßen und Flugfeldern, aus Protest gegen die Verunreinigung der Atmosphäre. Dass die Zukunft ihrer Generation auch etwas mit Staatsverschuldung und Rente zu tun hat, kommt ihnen nicht in den Sinn, kommt ihnen vielleicht zu kleinkrämerisch vor.
Ob sich das jetzt ändert? Ein erschreckender Befund der letzten Wahlen ist, dass junge Wähler sich stark den Extremen zuwenden, der AfD und vor allem der Linken. Eine gute Idee ist das nicht. Populistische Parteien haben ihre Expertise eindeutig nicht in der Problemlösung. Ihr Masche ist, das Land schlecht zu reden und alles, was schief läuft dem „System“ in die Schuhe zu schieben, das heißt den Parteien der Mitte. Auf die kommt es nun an. Sie müssen der Erosion des Vertrauens entgegenwirken. Merz müsste erkennen, dass er nur als Kanzler der Enkel reüssieren wird, der seine Agenda vom verengenden Blick auf die „haves“ und auf den nächsten Wahltermin löst. Das Exerzierfeld steht bereit. Im Einklang mit nahezu allen Experten verlangt der CDU-Nachwuchs eine beherzte Rentenreform, die die Fakten zur Kenntnis nimmt verhindert, dass die Altersversorgung weiter in der Spur verbleibt, wo Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird. Natürlich verlangt eine solche Reform Courage. Aber ist Courage nicht etwas, das gerade jungen Menschen imponiert?
Dr. Günter Müchler ist Journalist, Politik- und Zeitungswissenschaftler, war viele Jahre Korrespondent in Bonn und zum Schluss Programmdirektor beim Deutschlandfunk.



