Politik: Schwindende Legitimität
Europas Demokratien leiden unter einer doppelten Lähmung. Wie lange hält das System, bevor es kollabiert?
Vor kurzem hat der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu mit einem durch eine Zugverspätung ausgelösten „Boomer-Rant“ auf X auf sich aufmerksam gemacht: Seine Generation sei in einem funktionierenden Land groß geworden, „in dem die Straßen sicher und sauber waren, der Arztbesuch jederzeit möglich, Bank und Postamt zu Fuß erreichbar, die Mieten bezahlbar, der Traum vom Eigenheim realistisch“.

Amtsgänge seien spontan möglich gewesen und Schulunterricht sei kaum jemals ausgefallen.
An dieser Beschwerdeliste ist unschwer erkennbar, dass Felgentreu in Berlin lebt, der „dysfunktionalsten und dreckigsten Hauptstadt der EU“, wie es die Berliner Zeitung vor kurzem völlig korrekt formulierte. Allerdings sind Banken und Postämter auch anderswo nicht mehr unbedingt zu Fuß erreichbar. Frankreich kennt schon lange den Ausdruck désert administratif für jene von Verwaltung und öffentlichen Dienstleistungen weitgehend aufgegebenen Räume, in denen Post und Banken selbst mit dem Auto kaum mehr erreichbar sind. Die Verwahrlosung der Hauptstadt der nominell immer noch drittgrößten Volkswirtschaft der Erde ist insofern nur eine besonders drastische Ausprägung eines allgemeineren Phänomens: eines immer sichtbarer werdenden Leistungsverfalls staatlicher und öffentlicher Institutionen in (West-)Europa.
Die Problemliste ist lang und wird länger: Die öffentliche Infrastruktur bröckelt, elementare Staatsaufgaben und öffentliche Dienstleistungen wie Sicherheit, Sauberkeit, Gesundheitsversorgung und Bildungssystem werden – zumindest in der Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger – immer schlechter. Trotz um ein Mehrfaches höherer Militärausgaben wäre Europa angeblich nicht in der Lage, sich gegen Russland zu verteidigen. Gleichzeitig steigt die Staatsverschuldung, die öffentlichen Haushalte sind chronisch defizitär. Die Verschuldung der Euro-Gründungsstaaten stieg seit 2002 von 69 auf 88 Prozent des BIP. Eine stetige Zuwanderung weitestgehend mittelloser Menschen bringt die sozialen Sicherungssysteme – die für völlig andere Problemlagen konzipiert worden waren – vielerorts an den Rand der Belastbarkeit.
Europas Wettbewerbsfähigkeit und technologische Leistungsfähigkeit stagniert: Die Eurozone ist seit mindestens 20 Jahren die am langsamsten wachsende Wirtschaftsregion der Erde. Schon heute ist der Abstand im Pro-Kopf-Einkommen zwischen den USA und der EU in nominalem Dollar größer als der Unterschied zwischen der EU und Indien. Europas Durchschnittsverdiener leiden unter sinkender Kaufkraft ihrer Löhne und Gehälter. Die Kosten für Wohnen steigen stetig. Gleichzeitig nimmt die Vermögenskonzentration bei einer kleinen Schicht Superreicher weiter zu.
Und zum Schluss fällt auch noch der Zug aus. „Die Leute“, so der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak kürzlich in einem Moment der Nachdenklichkeit, „erleben einen Staat, der nicht in der Lage ist, die einfachsten Versprechen zu halten.“
Demokratische Politik verkommt zu einer Art parlamentarischer Performance.
Die Politik (und mit ihr die Bevölkerung) erscheint zunehmend als Opfer eines Systems, das sie selbst geschaffen hat. In diesem von Überbürokratisierung, Überjustizialisierung und einer neoliberalen Grundierung der EU-Binnenmarktordnung geprägten System verpuffen demokratische Impulse zunehmend wirkungslos. Über Wahlen und parlamentarische Mehrheiten sind grundsätzliche politische Kursveränderungen – wie nicht zuletzt die rechtspopulistisch geführten Regierungen in den Niederlanden und Italien vor allem in der Migrationspolitik lernen mussten – kaum mehr möglich. Diese Blockade des Politischen ist vielerorts sogar explizit erwünscht. „Effektive Einschränkungen der Exekutive“, so beschreibt Philipp Manow diese Entwicklung, „werden zu einem Gütesiegel liberaler Demokratie. Möglichst niemand soll so regieren können, wie eine Mehrheit es will.“
Allerdings gehen die Auswirkungen dieser Einhegung des Souveräns mittlerweile weit über das ursprünglich Beabsichtigte hinaus. Staatlich-administratives Handeln verfängt sich zunehmend in den Fallstricken von nationalen und europäischen Gesetzen, Verwaltungsvorschriften, dem Anspruchsdenken hyperindividualisierter Gesellschaften, von Geldmangel und einem massiven mission creep der Justiz, die sich immer weiter in das Terrain der Politik hineinbewegt und deren Gestaltungsspielräume zunehmend verengt. Demokratische Politik verkommt zu einer Art parlamentarischer Performance, in der sich die Akteure in symbolischen und immer weniger gestaltenden Gesten verlieren.
Die praktischen Auswirkungen dieser Selbstfesselung werden nicht nur von ehemaligen Bundestagsabgeordneten wahrgenommen. Laut einer aktuellen Studie der FES sind 76 Prozent der Deutschen der Meinung, das Land entwickle sich in die falsche Richtung. 53 Prozent glauben nicht, dass die Politik in der Lage ist, die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Und satte 84 Prozent sind der Ansicht, der Politik fehle es ganz grundsätzlich an einer Vision für die langfristige Entwicklung Deutschlands. Die politischen Akteure erscheinen zunehmend als gestaltungsunfähige Status-quo-Kräfte, die eine überforderte Ordnung verwalten, die für die Masse der Bürgerinnen und Bürger immer weniger liefert. In Berlin nicht einmal einen Termin im Bürgeramt.
Im Englischen gibt es den Ausdruck „grinding to a halt“, der das Bild eines sich allmählich festfressenden, langsam zum Stillstand kommenden mechanischen Systems evoziert. Man wird das Gefühl nicht los, dass dieser Ausdruck auch die Entwicklungstendenzen der politisch-administrativen Systeme in einigen Ländern Europas – und nicht zuletzt Deutschlands – ganz gut beschreibt. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat in seinen bisherigen acht Amtsjahren ein gutes Drittel der gesamten Staatsschulden Frankreichs aufgehäuft, ohne dass sich an den Strukturproblemen des Landes Grundlegendes geändert hätte. Wer würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass Deutschland mit den diversen „Sondervermögen“, die in den letzten Jahren geschaffen wurden, nicht eine ähnliche Entwicklung droht?
Auffällig ist, dass es eher konservative Stimmen sind, die mit dieser Entwicklung ein Problem zu haben scheinen. Progressive und liberale Politik scheint das weniger zu beschäftigen. Möglicherweise halten sie die mit dieser Entwicklung verbundenen Effizienz- und Glaubwürdigkeitsverluste für einen akzeptablen Preis für die Einhegung des „populistischen“ Gespenstes. Diese Haltung ist jedoch kurzsichtig. Denn die aktuelle Situation unterminiert mit ihrer doppelten Lähmung – Wahlen, die wenig verändern, und eine Verwaltung, die nicht liefert – die beiden zentralen Säulen der Legitimität demokratischer Systeme: Die „Input“-Legitimität der Selbstbestimmung der Staatsbürger ebenso wie die „Output“-Legitimität, die durch die erfolgreiche Bereitstellung öffentlicher Güter und die Erfüllung staatlicher Grundfunktionen entsteht. Wohin das führt, zeigt gerade eine aktuelle Allensbach-Umfrage: Nur noch 28 Prozent der der Deutschen haben Vertrauen in die Regierung als Institution.
Was uns droht, ist kein Systemwechsel, sondern ein Wechsel innerhalb des Systems.
Diese Entwicklung ist umso fataler, als sich längst Gegenkräfte und -modelle formieren. Das gilt zum einen für die westliche Welt, wo sich in der Person Donald Trumps ein Muster für einen autoritären Führungsstil etabliert hat, der sein politisches Mandat für ein hartes und konsequentes output-orientiertes Durchregieren jenseits etablierter institutioneller Arrangements nutzt. Noch größer dürfte aber langfristig die Herausforderung sein, die sich aus der Leistungsfähigkeit autoritärer nicht-westlicher Systeme etabliert.
Der Motor dieser Entwicklung ist China, das mit der konsequenten Output-Orientierung seines Systems eine völlig neue Form der Legitimierung staatlicher Herrschaft etabliert. In einem bemerkenswerten Aufsatz des amerikanisch-chinesischen Publizisten Kaiser Kuo heißt es: „Legitimität wird in diesem Jahrhundert nicht aus ideologischer Reinheit resultieren, sondern aus der (…) Fähigkeit, Ergebnisse zu liefern. Systeme werden nicht nach der Eleganz ihrer Theorien beurteilt werden, sondern nach ihrer Fähigkeit, existenzielle Herausforderungen zu bewältigen.“ Diese „Legitimität durch Leistung“ ist es, was in Westeuropa zunehmend in Frage steht und woraus Chinas autoritär-konfuzianistischer Staatskapitalismus seine Attraktivität bezieht. In China selbst sind die Auswirkungen dieser Entwicklung bereits messbar: Die nach 1990 geborene Generation steht der liberalen westlichen Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als ältere Kohorten. Wenn die Theorie von der Zentralität der delivery stimmt, wird dieses Modell zunehmend auch anderswo an Attraktivität gewinnen – zunächst wahrscheinlich in den nicht-westlichen Teilen der Welt. Eher früher als später könnte die Frage nach der performance legitimacy aber auch zur Gretchenfrage für die stagnierenden und blockierten Systeme der EU-Länder werden.
Angesichts der Verwahrlosung vieler öffentlicher Räume Berlins fragt man sich instinktiv, wie lange das noch gut gehen kann. Hat man in dieser Stadt, insbesondere in seiner östlichen Hälfte, nicht schon mal Ähnliches gesehen? Wer die DDR über die 1980er Jahre hinweg beobachtete, konnte zuzusehen, wie ein politisches und wirtschaftliches System langsam in die Knie ging. Wie die Dysfunktionalitäten immer stärker wurden und sich immer sichtbarer in den Alltag schlichen: grinding to a halt. Gleichzeitig rechnete sich dieses System bis zum Schluss mit Hilfe allerlei volkswirtschaftlicher Buchhaltungstricks schön: Es sei das zehntgrößte Industrieland der Welt. Bis es schließlich innerhalb weniger Monate in sich zusammenfiel, pleite und von seinen Bürgern als unreformierbar aufgegeben.
Ähnliches steht in Westeuropa natürlich nicht an. Was uns droht, ist kein Systemwechsel, sondern ein Wechsel innerhalb des Systems: ein populistischer Backlash, der die etablierten Parteien abwählt und die politische Macht – siehe Trump – in die Hand von Akteuren legt, die versprechen, Politik endlich wieder effizient zu betreiben. Damit dies nicht passiert, bedarf es ernsthafter Reformen: weg von blockierter Demokratie und zurück zu einer realen Gestaltungsmacht des Politischen. Solche Reformen liegen im ureigenen Interesse gerade jener Kräfte, die heute (noch) die parlamentarischen Mehrheiten stellen. Wenn die demokratischen Akteure diese „Systemfrage“ nicht selbst in Angriff nehmen, werden dies früher oder später andere tun.

Dr. Ernst Hillebrand ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor war er Referatsleiter der Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa sowie Leiter der Büros in Warschau, Paris, London und Rom.



