Digitale Technologien befeuern heute Unterdrückung statt Revolutionen. Was dagegen zu tun ist.

„Die digitale Vernetzung war der Funken, doch das Brennholz war schon da.“ ©pixabay.com

Einst trug die digitale Technologie zur Befähigung von Bürgerinnen und Bürgern und zum Sturz von Diktatoren bei. Heute wird sie als Instrument der Unterdrückung und des Unfriedens genutzt. Aus dieser Entwicklung lassen sich mehrere wichtige Lehren ziehen.

Erstens hat die Schwächung der Informations-Gatekeeper (1) – also der Nachrichtenträger alten Stils – wie Zeitungen, Fernsehen oder Radio, Nichtregierungsorganisationen, Regierungen und wissenschaftliche Einrichtungen die Außenseiter zwar gestärkt, sie auf eine andere Weise aber auch nachhaltig entmachtet. Für Dissidenten ist es nun zwar einfacher, die Zensur zu umgehen. Aber die Öffentlichkeit, die sie jetzt erreichen, ist häufig so laut und verwirrend, dass sie kaum noch eine Wirkung erzielen. Wer einen positiven gesellschaftlichen Wandel anzustoßen hofft, muss die Menschen davon überzeugen, dass in der Welt etwas verändert werden muss und dass es einen konstruktiven, vernünftigen Weg gibt, dies zu tun. Dagegen brauchen autoritäre und extremistische Kräfte oft nur für zusätzliche Verwirrung sorgen und ganz allgemein das Vertrauen schwächen. Zersplitterung und Lähmung halten in aller Regel dann alle Anderen von wirksamer Gegenwehr ab. Die alten „Türöffner“, wie die Gatekeeper gern bezeichnet werden, ließen zwar oft einen Teil der Wahrheit und abweichenden Meinungen nicht an die Öffentlichkeit dringen. Sie verhinderten aber auch viele Formen von Falschinformationen.

Zweitens sind die neuen, algorithmischen Gatekeeper nicht einfach (wie sie gern glauben machen wollen) neutrale Kanäle zur Weitergabe von Wahrheit und Unwahrheit. Sie verdienen ihr Geld damit, die Leute auf ihren Websites und Apps zu halten. Damit gleichen ihre Motive immer mehr derer, die Empörung schüren, Falschinformationen verbreiten und die bestehenden Vorurteile und Vorlieben bedienen. Die alten Info-Transporteure  haben in vielerlei Hinsicht versagt und dieses Versagen trug sicherlich dazu bei, in der Öffentlichkeit Misstrauen und Zweifel anzufachen. Aber die neuen haben Erfolg damit, Misstrauen und Zweifel zu befeuern, solange sie angeklickt werden.

Drittens ist diese Entwicklung vor allem im Lokaljournalismus folgenschwer. Während einige große US-Medienbetriebe den vom Internet verursachten Umbruch (bis jetzt) überlebt haben, hat die Umwälzung das lokale Zeitungswesen fast komplett zerschlagen und dieser Branche auch in vielen anderen Ländern geschadet. Das schuf den Nährboden für Falschinformationen. Es bedeutet auch, dass insbesondere diejenigen, die auf lokaler Ebene die Macht ausüben, weniger hinterfragt werden. Damit sind sie weniger rechenschaftspflichtig. Die russischen Agenten, die überall in den USA gefälschte Medienorganisationen schufen, verstanden entweder den Hunger nach Lokalnachrichten, oder diese Strategie war ein reiner Glücksgriff. Ohne eine gegenseitige Kontrolle auf lokaler Ebene nehmen Verfälschungen zu und setzen sich nach oben fort. Sie leisten schließlich einer globalen Welle der Verfälschung und Desinformation Vorschub, die bei vielen der aktuellen politischen Krisen eine wichtige Rolle spielt.

Unser geistiges Universum ist keine Echokammer, aber unser soziales ist eine. Zugehörigkeit ist stärker als es Tatsachen sind.

Die vierte Lehre hat mit dem vielzitierten Problem der Filterblasen oder Echokammern zu tun – also mit der Behauptung, dass wir im Internet nur auf Meinungen stoßen, die den unseren ähnlich sind. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Die Algorithmen sorgen zwar oft dafür, dass die Menschen das zu sehen und zu hören bekommen, was sie sehen und hören wollen. Die Forschung zeigt aber auch, dass wir online wahrscheinlich auf eine größere Vielfalt an Meinungen stoßen als offline oder zu früheren Zeiten.

Das eigentliche Problem besteht vielmehr darin, dass man im Zeitalter der sozialen Medien anders als früher auf Meinungen trifft, die im Gegensatz zu den eigenen stehen. Früher las man diese Meinungen in der Zeitung, und zwar allein. Heute ist es so, als hörte man sie von der gegnerischen Mannschaft, während man umgeben von den Fans des eigenen Teams im Fußballstadion sitzt. Online sind wir mit unseren Communities verbunden und heischen nach Zustimmung von Gleichgesinnten. Wir verbünden uns mit unserer Mannschaft, indem wir die Fans der anderen Mannschaft ausbuhen. Soziologisch ausgedrückt stärken wir unser Gefühl der „In-Group“-Zugehörigkeit, indem wir den Abstand von und die Spannungen mit der fremden „Out-Group“ erhöhen – wir gegen sie. Unser geistiges Universum ist keine Echokammer, aber unser soziales ist eine. Die verschiedenen Projekte, die Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen wollen, sind zwar wertvoll. Sie überzeugen die Menschen aber nicht. Zugehörigkeit ist stärker als es Tatsachen sind.

Eine ähnliche Dynamik kam in der Folge des Arabischen Frühlings zum Tragen. Die Revolutionäre gerieten in den sozialen Medien in Streit und zersplitterten in immer kleinere Gruppen. Gleichzeitig mobilisierten die autoritär Eingestellten ihre eigenen Anhänger, um die Dissidenten anzugreifen, die sie als Verräter oder Ausländer bezeichneten. Solche „patriotischen“ Provokationen und Schikanen im Internet sind wahrscheinlich üblicher und eine größere Bedrohung für „Abweichler“ als die von Regierungen inszenierten Angriffe.

Auf dieselbe Weise wurde die Polarisierung in den USA durch (vermutlich) russische Agenten angeheizt, die sich gleichzeitig als Immigranten und Verfechter der weißen Vorherrschaft, als Trump-Unterstützer und fanatische Anhänger von Bernie Sanders („Bernie Bros“) ausgaben. Der Inhalt ihrer Argumente spielte keine Rolle. Ihnen ging es darum, die Leute zu lähmen und zu polarisieren und nicht darum, sie zu überzeugen. Ohne dass die alten Gatekeeper ihnen im Wege standen, konnten ihre Botschaften alle erreichen. Und mit den ihnen zur Verfügung stehenden digitalen Analysen konnten sie ihre Botschaften an bestimmte Zielgruppen richten – genau wie jede Werbe- oder politische Kampagne.

Bei Sicherheit geht es nicht darum, wer über mehr Cray-Supercomputer und Kryptographie-Experten verfügt. 

Russland nutzte die Schwäche der USA auf dem Gebiet der digitalen Sicherheit aus ©pixabay.com

Fünftens und letztens nutzte Russland die Schwäche der USA auf dem Gebiet der digitalen Sicherheit aus, um die öffentliche Debatte rund um die Wahlen von 2016 zu unterwandern. Das Hacken und die Veröffentlichung von E-Mails des Democratic National Committee und von Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta führte zu einer Zensurkampagne, wobei konventionelle Medienkanäle mit größtenteils irrelevanten Inhalten überschwemmt wurden. Als der E-Mail-Skandal um Clinton die Nachrichten dominierte, wurden weder Trumps noch Clintons Wahlkampf in den Medien jener kritischen Überprüfung unterzogen, die eigentlich notwendig gewesen wäre.

Letztlich zeigt das, dass die Cybersicherheit der USA unzulänglich ist. Die USA mögen immer noch über die größten Offensivfähigkeiten in der Cybersicherheit verfügen, aber Podesta fiel auf eine Phishing-Mail herein, die einfachste Form des Hackens, und die US-Medien fielen auf Aufmerksamkeits-Hacks herein. Aufgrund ihres Hungers nach Klicks und Endnutzern und ihrer Unkenntnis, wie die neue digitale Sphäre funktioniert, wurden sie von ihrer Hauptaufgabe ab- und in einen unübersichtlichen Sumpf umgelenkt. Bei Sicherheit geht es nicht darum, wer über mehr Cray-Supercomputer und Kryptographie-Experten verfügt. Es geht um das Verständnis, wie Aufmerksamkeit, Informationsüberflutung und soziale Bindungen im digitalen Zeitalter funktionieren.

Diese wirkungsstarke Mischung erklärt, warum Autoritarismus und Desinformation seit dem Arabischen Frühling im Netz so gut gedeihen, ein freier Wettbewerb der Ideen dagegen nicht. Die vielleicht einfachste Erklärung des Problems steckt in der ursprünglichen Unternehmensphilosophie von Facebook (die das soziale Netzwerk 2017 nach viel Gegenwind aufgrund seiner Rolle bei der Weitergabe von Daten änderte). Laut dieser Philosophie wollte Facebook die Welt „offener und vernetzter“ machen. Inzwischen ist erwiesen, dass dies nicht zwangsläufig ein ungetrübtes Gut ist. Offen wofür und auf welche Art vernetzt? Dass diese Fragen gestellt werden müssen, ist vielleicht die größte Lehre von allen.

Was ist zu tun? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Wichtiger noch: Es gibt keine rein digitalen Antworten. Es gibt sicherlich Maßnahmen, die im digitalen Bereich zu ergreifen sind. Das schwache Kartellrecht sollte verändert werden. Es ließ zu, dass ein paar Riesenunternehmen quasi eine Monopolstellung einnehmen. Diese Riesen zu zerschlagen, ohne die Online-Spielregeln zu ändern, könnte jedoch einfach zur Schaffung vieler kleiner Unternehmen führen, die sich dann bei der Datenüberwachung, beim Mikrotargeting und dem Anstoß zu einer „sanften Verhaltensänderung“ (dem sogenannten Nudging) derselben rücksichtslosen Techniken bedienen.

Wenn ein Unternehmen vor zwei oder drei Jahrzehnten eine so rücksichtslose Datensammlung als Geschäftsmodell auch nur angedeutet hätte, wären wir entsetzt gewesen.

Die allgegenwärtige digitale Beobachtung sollten in ihrer gegenwärtigen Form schlicht und einfach beendet werden. Es gibt keine vernünftige Rechtfertigung dafür, es so vielen Unternehmen zu erlauben, so viele Daten über so viele Menschen anzuhäufen. Die Nutzer aufzufordern, sich per Klick mit schwammigen, schwer greifbaren Benutzerbedingungen einverstanden zu erklären, ist nicht wirklich eine „Einwilligung nach Aufklärung“. Wenn ein Unternehmen vor zwei oder drei Jahrzehnten, bevor wir wie schlafwandelnd in die heutige digitale Welt gerieten, eine so rücksichtslose Datensammlung als Geschäftsmodell auch nur angedeutet hätte, wären wir entsetzt gewesen.

Es gibt viele Möglichkeiten, digitale Dienstleistungen anzubieten, ohne derart viele persönliche Daten abzugreifen. Werbetreibende sind früher auch ohne diese Daten ausgekommen und könnten es wieder. Und vermutlich wäre es auch besser, wenn Politiker nicht so leicht an Daten herankämen. Werbeanzeigen können mit Inhalten verbunden, statt direkt an bestimmte Menschen gerichtet zu werden: Es ist beispielsweise in Ordnung, wenn mir Werbung für Taucherausrüstungen zugeht, wenn ich mich gerade in einem Diskussionsforum für Taucher befinde, statt anhand meines Verhaltens auf anderen Websites darauf zu schließen, dass ich Taucherin bin und mir dann überallhin zu folgen – online oder offline.

Aber wir sind nicht nur aufgrund der digitalen Technologie dorthin gekommen, wo wir heute sind. Die russische Regierung hat vielleicht Online-Plattformen genutzt, um sich aus der Ferne in die US-Wahlen einzumischen. Aber Russland hat nicht die Vorbedingungen geschaffen, die die USA so anfällig für diese Art von Einmischung machten: soziales Misstrauen, schwache Institutionen und abgehobene Eliten.

Es war nicht Russland, das die USA (und seine Verbündeten) dazu gebracht hat, einen großen Krieg im Nahen Osten anzuzetteln und dann fürchterlich falsch zu führen. Für diesen Krieg, der immer noch verheerende Folgen hat, unter anderem die gegenwärtige Flüchtlingskrise, wird quasi niemand zur Verantwortung gezogen. Ebenso wenig hat Russland für den finanziellen Zusammenbruch von 2008 gesorgt. Der ist auf korrupte Praktiken zurückzuführen, mit denen Finanzinstitute sich bereicherten und bei dem alle Schuldigen ungeschoren – und oft reicher als zuvor – davonkamen, während Millionen von Menschen weltweitn ihre Arbeitsplätze verloren und diese nicht mit gleichwertigen Jobs ersetzten konnten.

Was auch immer Russland getan hat, einheimische Akteure in den USA und Westeuropa verbreiten über die digitalen Plattformen sehr viel mehr Fehlinformationen.

Russland ist nicht dafür verantwortlich, dass das Vertrauen der Amerikanerinnen und Amerikaner in das Gesundheitswesen, in Umwelt- und andere Behörden immer mehr schwand. Russland hat nicht die Drehtür zwischen dem Kongress und den Lobbyfirmen installiert, die ehemalige Politiker zu attraktiven Gehältern beschäftigen. Russland hat nicht die Gelder für das Hochschulwesen in den USA gekürzt. Russland hat nicht das globale Netz an Steuerparadiesen gegründet, in denen die Konzerne und Reichen ihr enormes Vermögen anhäufen können, während grundlegende öffentliche Dienste eingeschränkt werden.

All das sind Verwerfungslinien, entlang derer einigen Inhalten eine außerordentliche Rolle zukommen kann und zwar nicht nur russischen Inhalten: Was auch immer Russland getan hat, einheimische Akteure in den USA und Westeuropa verbreiten über die digitalen Plattformen sehr viel mehr Fehlinformationen.

Selbst das allen Nutzern offen zugängliche Umfeld, in denen diese digitalen Plattformen seit langem betrieben werden, kann als Symptom der umfassenderen Problematik gesehen werden: eine Welt, in der den Mächtigen kaum Einschränkungen in ihren Aktionen auferlegt werden, während alle anderen ausgebeutet werden. In den USA und in Europa sind die Reallöhne seit Jahrzehnten nicht gestiegen, während die Profite der Konzerne anhaltend hoch sind und die Reichen immer weniger Steuern zahlen. Junge Menschen müssen häufig mehrere, oft mittelmäßige Jobs unter einen Hut bringen und haben trotzdem immer größere Schwierigkeiten, den traditionellen Weg des Vermögensaufbaus zu beschreiten und sich ein eigenes Haus zu kaufen – es sei denn, sie kommen aus einer wohlhabenden Familie und erben ein Vermögen.

Wenn die digitale Vernetzung den Funken lieferte, so konnte er nur zünden, weil das Brennholz schon überall vorhanden war. Der Weg nach vorne besteht nicht darin, den Informations-„Türöffnern“ der alten Welt oder dem Idealismus des Arabischen Frühlings nachzutrauern, sondern darin, herauszufinden, wie unsere Institutionen, unsere gegenseitigen Kontrollen und unsere gesellschaftlichen Absicherungen im 21. Jahrhundert funktionieren sollten – und zwar nicht nur für die digitalen Technologien, sondern für die Politik und Wirtschaft im Allgemeinen. Die Verantwortung dafür liegt weder bei Russland noch allein bei Facebook, Google oder Twitter, sondern bei uns allen.

Zeynep Tüfekçi ist Wissenschaftlerin und Techno-Soziologin. Sie forscht zu den sozialen Auswirkungen aufkommender Technologien im Kontext von Politik und Unternehmensverantwortung. Tüfekçi ist Autorin des Buches „TwitterandTearGas“.

 

1.) Unter Gatekeeper (englisch: „Schleusenwärter“, „Torwächter“) werden in der Soziologie Personen verstanden, die aufgrund von Fähigkeiten oder Positionen die Möglichkeit haben, den Aufstieg von Menschen, der in der Soziologie auch Mobilität genannt wird, zu beeinflussen.

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