Politik: Sinwars letzte Reise
Der Tod des Hamas-Führers könnte einen letzten Ausweg aus der Kriegseskalation bedeuten. Dass Israel die Chance ergreift, ist jedoch fraglich.
Die andauernde humanitäre Katastrophe in Gaza, das Brennen des Libanons, der drohende Regionalkrieg mit Iran: Zu einer Zeit, in welcher der gesamte Nahe Osten in Düsternis zu versinken droht, zeichnet sich nun plötzlich doch ein kleiner Silberstreif am Horizont ab. Yahya Sinwar, der brutale Extremist und Mastermind hinter den Hamas-Terrorattacken vom 7. Oktober, fiel jener Gewalt zum Opfer, die er selbst entfesselt hatte. Sein ebenso skrupelloser wie tollkühner Angriff auf Israel markierte den Beginn der jüngsten Eskalation. Sein Tod durch die israelische Armee könnte dem Wahnsinn nun ein Ende setzen. Betonung auf „Könnte“ – denn sicher ist dies nicht.
Sinwars Tod ist für die Hamas ein ähnlicher Enthauptungsschlag wie der Tod Nasrallahs für die Hisbollah. Innerhalb von nur drei Wochen gelang es Israel damit, seine beiden ärgsten Feinde auszuschalten. Beide mythenumweht – der psychologische Schlag, der ihr Ableben für ihre Anhänger bedeutet, kann kaum überschätzt werden. Während die Hisbollah jedoch fortlebt, ist die Hamas in Gaza mit dem Tod ihres Anführers endgültig organisatorisch und ideell gebrochen. Die völlige Verwüstung des Landstrichs, die Verwandlung der Bevölkerung in um ihr nacktes Überleben kämpfende Versehrte und Vertriebene sowie die völlige Zersplitterung der einstigen Kampfmiliz sind Zeugnis einer vernichtenden Niederlage. Es stünde dem Sieger gut zu Gesicht, endlich Gnade walten zu lassen.
Die existenzielle Schwächung der beiden größten sicherheitspolitischen Herausforderungen an seinen Grenzen ist ein Triumph für Israel. Ein Wiedereinstieg in Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde könnte noch weitergehende Erfolge zeitigen. Saudi-Arabien, als unbestrittene arabische Vormacht, hat für diesen Fall die völlige Normalisierung angeboten. Andere arabische Staaten würden folgen. Der Iran dagegen, dessen Eintrittskarte in die arabische Welt ganz wesentlich im ungelösten Palästinenserkonflikt besteht, wäre mittelfristig herausgedrängt. Der Mullah-Staat müsste sich, statt ideell die arabische Straße anzuführen, auf das Management der failed states konzentrieren, deren traurige Existenz er größtenteils selbst zu verantworten hat. Ganz unglücklich wäre selbst er darüber nicht. Denn Teheran will eigentlich keine Eskalation. Der neue, freilich wenig einflussreiche Reform-Präsident will gar verhandeln mit dem Westen. Und selbst der alternde Revolutionsführer ist kein Hasardeur und sieht sich eher in eine zusehends unvorteilhaftere Konfrontation mit Israel gedrängt: aus Gründen der Gesichtswahrung. Ein wirklicher Regionalkrieg, das weiß auch das Regime, wäre systemgefährdend.
Vor den Augen der Welt entfaltet sich eine menschengemachte, herbeigebombte humanitäre Apokalypse.
Dies alles aber, eine israelisch-arabische Aussöhnung, eine Perspektive für die gebeutelten Palästinenser und ein Iran, der seine Wunden leckte, ist das Positivszenario. Wahrscheinlich ist all das nicht. Es setzt eine Regierung in Israel voraus, die klug und maßvoll Erfolge absichert. Eine bedachte Administration, welche die Sicherheit des eigenen Landes an erste Stelle setzt und ihren Feinden den Boden entzieht, indem sie den Zivilbevölkerungen im Nahen Osten die Vision eines gemeinsamen Friedens präsentiert. Groß ist das Risiko, dass die derzeitige Regierung diese Chance auf Deeskalation vergibt – aus Hybris ebenso wie aus Kalkül.
„What’s Israel’s endgame?“, fragte fast schon entgeistert Ayman Safadi, der jordanische Außenminister, jüngst vor der UNO in New York. Um was geht es Israel tatsächlich? Anders als von den meisten westlichen Regierungen großzügig unterstellt: nicht primär um einen gerechten Frieden. Die Art der Kriegsführung in Gaza spricht nicht nur jeder Verhältnismäßigkeit Hohn, sie überschreitet auch seit Monaten die militärischen Notwendigkeiten. Das Resultat ist die völlige Vernichtung aller natürlichen und menschlichen Lebensgrundlagen in dem geschundenen Landstrich. Vor den Augen der Welt entfaltet sich eine menschengemachte, herbeigebombte humanitäre Apokalypse, deren Horror eigentlich nur noch durch die Vorstellung getoppt wird: Wie sähe es dort eigentlich aus, wenn die Augen der Welt nicht darauf blickten? Also wenn die Vereinigten Staaten, die UNO, die Bundesaußenministerin und so viele andere nicht immer und immer wieder auf die Notwendigkeit humanitärer Zugänge gedrängt hätten? Mindestens in dieser alternativen Realität wäre die Frage nach dem G-Wort, die führende Holocaustforscher längst bejahen, wohl weitaus weniger umstritten.
Dass nicht die Hamas der Feind ist, sondern dieser Krieg sehr wahrscheinlich gegen das palästinensische Volk als solches geführt wird, darauf deutet auch die israelische Weigerung hin, ein tragfähiges Day-after-Szenario zu entwerfen. Netanjahus politische Vision vor dem 7. Oktober bestand im Management der palästinensischen Frage. Seine ganze politische Existenz baut auf der Verweigerung des palästinensischen Selbstbestimmungsrechts auf. Nicht zuletzt trifft ihn eine politische Mitverantwortung für die Ermordung Yitzhak Rabins, der seinen ehemaligen Feinden einst die Hand reichte. Das Ziel war es, Besatzung, Unterdrückung und das, was mittlerweile alle ernst zu nehmenden Menschenrechtsorganisationen als „Apartheid“ bezeichnen, in alle Ewigkeit zu perpetuieren.
Der 7. Oktober zeigte nun die Grenzen dieses „Managements“. Die Terrortaten der Hamas beweisen, dass Gewalt immer grässlichere Gegengewalt hervorbringt und sich diese Spirale letztlich nicht managen lässt. Zum Entsetzen von Israels hegemonialer Rechter kehrte die zuvor so arg marginalisierte palästinensische Frage plötzlich mit Aplomb zurück auf die internationale Agenda. Mehr denn je gepusht vom globalen Süden, dem aufstrebenden Teil der Welt, in dem Israel vielerorts bereits als Pariastaat gilt. Vom Management geht es nun nahtlos über in die Liquidierung der palästinensischen Frage. Die Indizien dafür sind so mannigfach, dass man schon aktiv wegschauen muss, um es nicht zu sehen.
Weit über die arabische Welt hinaus steht der Ruf der amerikanischen Supermacht auf dem Spiel.
Im Wegschauen freilich sind einige besser als andere. Von der durch die Knesset auch offiziell beerdigten Zweistaatenlösung über die mittlerweile unzähligen genozidalen Äußerungen israelischer Politiker, die totale physische Vernichtung Gazas, die Pläne zur „Ausdünnung“ der dortigen Bevölkerung, das gezielte Aushungern Nordgazas, bis hin zur staatlich protegierten Siedlergewalt in der von den rechtsradikalen Kahanisten beherrschten und bereits jetzt immer stärker „gazafizierten“ Westbank und den bis in weite Teile des Likud mitgetragenen Wiederbesiedlungskonferenzen. Der in den sozialen Netzwerken vielfach dokumentierte Zusammenbruch der Armeedisziplin ist nur ein weiteres Indiz.
All das ist in Teilen Kalkül. Hybris ist jedoch der Glaube, damit durchkommen zu können, ohne dass mittelfristig ein Preis anfällt. Dass man, wie im Libanon nun in Anfängen durchexerziert, nahtlos übergehen könne von der Liquidierung der palästinensischen Frage zur brutalen Umgestaltung einer ganzen Region. Im Rausch der eigenen militärischen Überlegenheit ist man freilich nicht ganz allein. Der große Ermächtiger sitzt am anderen Ende des Großen Teichs. Ohne amerikanische Bomben, amerikanische Waffen, amerikanisches diplomatisches Backing wäre diese Strategie der reinen Gewalt nicht denkbar. Eine Eindämmung des Konflikts auf Gaza und die Zweistaatenlösung gaben die USA einst als Ziel nach dem 7. Oktober aus. Weder das eine noch das andere werden sie bekommen. Gespenstig mutet die Vorstellung an, dort in Washington sitzt ein zunehmend altersschwacher Präsident, umringt von ideologischen Hasardeuren, die in jeder Eskalation einen „historischen Moment“ erkennen wollen, der „die Region zum Besseren verändere“. Fröhliche Urständ feiert hier ein längst totgeglaubter Neokonservatismus und der Irrglaube, auf exzessiver Gewalt ließe sich so etwas wie eine tragfähige Ordnung errichten.
Eine weitere Ordnung freilich ist bereits verendet in den Ruinen von Gaza. Dass man so etwas verteidige wie eine regelbasierte Weltordnung – damit muss man den Völkern des Südens nicht mehr kommen. Für weite Teile des Westens, Deutschland inklusive, ist Gaza ein Offenbarungseid. Weit über die arabische Welt hinaus steht der Ruf der amerikanischen Supermacht auf dem Spiel. Hoffen muss man nun, dass andernorts Regierungen einen Mehrwert an grundlegenden Regeln erkennen mögen. Interessen, nicht Werte, mögen uns retten vor dem endgültigen Abdriften in eine reine Weltgewaltordnung.
Interessen sind es auch, die den Tod des großen Anstifters, des Terrorfürsten Sinwar, nun zum Anlass nehmen sollten, Schlimmeres doch noch zu verhindern. Der Tod Sinwars bietet eine Ausfahrt Richtung Deeskalation und Ausnüchterung. Wer die Chance nicht ergreift, befindet sich auf einer weiteren Etappe in den Irrsinn von Krieg, Gewalt und Zerstörung. Diese Abzweigung kommt allerdings nicht von selbst. Radikale israelische Siedler, irrlichternde amerikanische Neocons oder risikoaffine iranische Mullahs werden sie vermutlich von alleine nicht nehmen. Es bietet sich, vielleicht das letzte Mal, die Chance für Europäer und moderate Araber, das Lenkrad der Geschichte zu ergreifen. Gerade in Deutschland erfordert das weniger innenpolitisch orientierte Haltungsdebatte und mehr mutig vorwärtsdrängende, weitblickende Diplomatie. Es gibt Instrumente, Druck auszuüben. Man muss sie freilich auch nutzen, ohne Angst vor der eigenen Courage.
Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die FES unter anderem als Leiter der Büros in Botswana und Madagaskar tätig.
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