Politik: Alles nur Theater
Die Europäer überbieten sich mit Militärzusagen für die Ukraine, die sie nicht einhalten können – ein Trauerspiel.

Zur Poesie regen Europäische Gipfeltreffen normalerweise nicht an, aber der jüngste Gipfel in Paris machte dem Dichter Horaz alle Ehre, der einst schrieb: Patrurient montes; nascetur ridiculus mus – „Es kreißte der Berg und gebar eine Maus.“ Zum Gipfel geladen hatte Frankreichs Präsident Macron als Reaktion auf die von ihm als „Elektroschock“ bezeichnete Wahl der Trump-Regierung und deren Pläne, ohne Beteiligung der Europäer über Frieden in der Ukraine zu verhandeln. Fürs Erste deutet alles darauf hin, dass bei dem Treffen nicht einmal eine Maus herauskam, sondern rein gar nichts.
Macron hatte vermutlich gehofft, die Staats- und Regierungschefs der anderen wichtigen europäischen Länder würden geschlossen seinem Vorschlag zustimmen, französische und europäische Friedenstruppen für die Ukraine bereitzustellen (wobei Russland diesen Gedanken bereits kategorisch abgelehnt hat). Der britische Premierminister Keir Starmer unterbreitete tatsächlich ein entsprechendes Angebot, erklärte aber wenig später, ohne „Absicherung“ durch die USA seien europäische Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht glaubwürdig.
Nachdem US-Verteidigungsminister Pete Hegseth öffentlich ausgeschlossen hatte, dass sein Land zu solchen Sicherheitsgarantien bereit wäre, gestand Starmer damit indirekt ein, dass sein Angebot, britische Soldaten in der Ukraine zu stationieren, gegenstandslos war. Zudem forderten britische Parlamentarier, dass es über die Entsendung britischer Soldaten eine Abstimmung geben müsse. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte unterdessen vor seiner Abreise aus Paris, eine Diskussion über europäische Soldaten für die Ukraine sei „völlig verfrüht“ und „höchst unangemessen“, solange der Krieg andauere. Polens Premierminister Donald Tusk (einer der größten Unterstützer der Ukraine) schloss die Entsendung polnischer Soldaten von vornherein aus: „Wir haben nicht vor, polnische Soldaten auf ukrainisches Gebiet zu entsenden. Diejenigen Länder, die solche physischen Garantien in der Zukunft geben wollen, werden wir logistisch und politisch unterstützen.“
Macron lenkte das Augenmerk auf etwas sehr viel Sinnvolleres: Europa müsse nicht nur eigene Streitkräfte, sondern auch eine eigene Rüstungsindustrie aufbauen, die diese mit modernster Ausrüstung versorgt. In einem Interview mit der Financial Times sagte er: „Wir müssen unter anderem eine vollständig integrierte europäische Verteidigungs-, Industrie- und Technologiebasis entwickeln. Dies geht weit über eine einfache Debatte über Ausgaben hinaus. Wenn wir nichts weiter unternehmen und noch mehr zu Abnehmern der USA werden, werden wir auch in 20 Jahren keine Antwort auf die Frage nach der europäischen Souveränität parat haben.“
Die britische Armee verfügt zwar über exzellente Soldaten, hat aber ständig mit Pannen und Mängeln ihrer Waffensysteme zu kämpfen.
Diese Souveränität zu erreichen, ist dringendst notwendig – auch wenn klar ist, dass Trump erwartet, dass Europas höhere Militärausgaben in die Anschaffung amerikanischer Rüstungsgüter fließen werden, und er bereit ist, durch entsprechenden Druck genau dafür zu sorgen. Schon in dem Interview mit Macron wird allerdings deutlich sichtbar, auf welche Schwierigkeiten eine solche europäische Integration stößt. Der französische Präsident forderte Europas Staaten eindringlich zum Kauf des Luftabwehrsystems SAMP/T auf, das besser sei als das gegenwärtig von mehreren Ländern genutzte US-Raketensystem Patriot.
Damit liegt er möglicherweise richtig, aber es ist sicher kein Zufall, dass SAMP/T in Frankreich und Italien hergestellt wird. Sein Bekenntnis zur Integration der europäischen Rüstungsindustrien könnte Macron wirkungsvoll dadurch beweisen, dass er sich zum Beispiel bereit erklärt, die Produktion des französischen Leclerc-Kampfpanzers einzustellen und die eigene Armee stattdessen mit deutschen Leopard-Panzern auszurüsten.
Ein anschauliches Exempel für dieses Problem ist Großbritannien. Das Land verfügt über eine der ganz wenigen Berufsarmeen in Europa und ist damit für jede eigenständige europäische Verteidigung von entscheidender Bedeutung. Doch die britische Armee verfügt zwar über exzellente Soldaten, hat aber ständig mit Pannen und Mängeln ihrer Waffensysteme zu kämpfen, was zu einem großen Teil daran liegt, dass Großbritanniens industrielle Basis inzwischen zu limitiert ist, um einen effizienten Rüstungssektor zu unterhalten. Andererseits kommt der Rüstungsindustrie gerade deshalb, weil die britische Industrie so deutlich geschrumpft ist, eine entscheidende Rolle für den Erhalt dessen zu, was vom technologischen Know-how der Briten noch übrig ist. Und das soll zugunsten der Deutschen aufgegeben werden? Ernsthaft?
Hinzu kommt, dass die von der Trump-Regierung geforderte und von Macron und Starmer befürwortete radikale Aufstockung der Militärausgaben eine Kombination aus Steuererhöhungen und brutalen Kürzungen der Budgets für Soziales, Gesundheit und Infrastruktur erfordern wird – und das ausgerechnet in einer Zeit, in der diese Budgets ohnehin schon massiv unter Druck stehen und der Unmut der Normalbevölkerung darüber rapide wächst.
Das gedankliche Chaos, das im heutigen Europa mit Blick auf die Ukraine und den dortigen Friedensprozess herrscht, zeigt, wie willensschwach die Allgemeinheit und wie fassungslos das europäische Establishment ist.
Stephen Bush von der Financial Times kommentiert Keir Starmers Zusagen an das Militär so: „Wofür Labour sich am Ende auch entscheidet — politisch wird es auf jeden Fall schwierig: Wenn die Verteidigungsausgaben erhöht werden, ohne die gemachten Steuerversprechen zu brechen, wird Labour ungemein tiefe und schmerzhafte Einschnitte in allen anderen Bereichen in die Wege leiten müssen — und nach meiner Einschätzung die nächste Wahl mit Sicherheit verlieren. Doch eine Erhöhung der Lohn- und Einkommensteuer, der Sozialbeiträge oder der Mehrwertsteuer ist ebenfalls mit großen Risiken verbunden.“
Es gibt allerdings noch eine dritte Möglichkeit, die vielleicht für die britische Labour-Regierung nicht infrage kommt, aber sicherlich für andere Regierungen europäischer Länder: die Militärausgaben nämlich einfach nicht aufzustocken.
Hier liegt das andere Problem, das die teuren und riskanten Zusagen der amtierenden europäischen Regierungen mit sich bringen: Angesichts der tektonischen Verschiebungen, die derzeit Europas politische Landschaft verändern, ist hochgradig unwahrscheinlich, dass zukünftige europäische Regierungen sich an derartige Zusagen überhaupt halten werden. Präsident Macron ist de facto schon jetzt eine „lame duck“. In Deutschland schrumpft die politische Mitte gerade rapide dahin. Starmers Posen in der Ukrainefrage wirken sehr deutlich wie ein bewusster oder unbewusster Versuch, von der weitgehenden innenpolitischen Lähmung im eigenen Land abzulenken. Solche Ablenkungsbotschaften verfangen vielleicht für eine gewisse Zeit, richten aber wenig aus, wenn die Menschen beim Arzt endlos Schlange stehen.
Das gedankliche Chaos, das im heutigen Europa mit Blick auf die Ukraine und den dortigen Friedensprozess herrscht, zeigt, wie willensschwach die Allgemeinheit und wie fassungslos das europäische Establishment ist, das die Verantwortung für seine Strategie viele Jahre lang den USA überlassen hat und jetzt auf einmal anfangen soll, eigenständig zu denken. Zugleich zeigt dieses gedankliche Chaos aber auch, dass die europäische Politik auf Prämissen aufbaut, die sich zum Teil elementar widersprechen und deren Widersprüche offen zutage treten, sobald die Europäer gefordert sind, eigenständig zu handeln.
Auch der Gedanke, die Europäer würden durch ein Eingreifen in der Ukraine die baltischen Staaten verteidigen, ist sehr sonderbar.
Deshalb geraten diejenigen, die sich für eine europäische Friedenstruppe in der Ukraine aussprechen, in einen Zustand geistiger Verwirrung, der mit dem Begriff „kognitive Dissonanz“ absolut unzutreffend beschrieben ist. Sie reden sich ein, Putin verfolge größenwahnsinnige Ziele und werde deshalb eines Tages die baltischen Staaten angreifen, um die NATO zu „testen“, obwohl Putin nie auch nur ansatzweise einen entsprechenden Wunsch erkennen ließ und obendrein für minimale Vorteile furchtbare Risiken eingehen müsste.
Dennoch sehen sie sich aus irgendeinem Grund veranlasst, für europäische Zusagen an die Ukraine zu plädieren, die Russland unbedingt austesten müsste und die von den USA nicht unterstützt werden. Dies würde die Glaubwürdigkeit der NATO-Sicherheitsgarantien massiv schwächen. Einige der Beobachter, die — zum Teil zutreffend — über die historischen, kulturellen und ethnischen Wurzeln von Putins „obsessiven Fixierung“ auf die Ukraine schreiben, äußern sich gleichzeitig so, als wären Putin und die Russen ebenso obsessiv auf Polen und die baltischen Staaten fixiert. Hier artikuliert sich ein falsches Verständnis von den russischen Einstellungen, das entweder auf totaler Ahnungslosigkeit oder bewusster Lüge basiert.
Auch der Gedanke, die Europäer würden durch ein Eingreifen in der Ukraine die baltischen Staaten verteidigen, ist sehr sonderbar und spiegelt eher die schmerzvollen Erfahrungen wider, welche die baltischen Staaten in der Vergangenheit machen mussten, als die heutige Situation. Denn die größte russische Bedrohung für die Balten sind nicht irgendwelche russischen Ambitionen im Baltikum, sondern eben genau die Gefahr, dass der Krieg in der Ukraine sich zu einem Konflikt zwischen der NATO und Russland ausweitet.
Davon abgesehen, würden die europäischen Militärzusagen an die Ukraine die Verteidigungsfähigkeit der NATO unmittelbar schwächen. Irgendwann könnten die Briten mit Müh und Not eine Division zusammenschustern und in die Ukraine schicken, aber dafür müssten sie erstens die Verteidigung des eigenen Landes und zweitens ihre bestehenden Verpflichtungen gegenüber Polen und den baltischen Staaten aufgeben, zu deren Verteidigung Großbritannien vertraglich verpflichtet ist. Hoffen wir, dass das Agieren der britischen und europäischen Falken nur theatralisches Gehabe ist – denn nach einigen ihrer aktuellen Äußerungen zu urteilen, wäre dieses Gehabe am besten im Illusionstheater aufgehoben.
Die englische Originalversion des Artikels erschien zuerst bei Responsible Statecraft.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld
Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington, DC. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Katar und Visiting Professor am Department of War Studies des King’s College in London.
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