Ist ein Medikament als Orphan Drug zugelassen, heißt das: Es ist die einzige Behandlungsmöglichkeit oder von erheblichem Zusatznutzen für die Patienten mit einer seltenen Erkrankung. Davon braucht es mehr – der ungedeckte medizinische Bedarf ist riesig. Bestehende Regelungen, die Forschung fördern und die Verfügbarkeit neuer Medikamente verbessern, müssen daher erhalten werden.

Ist ein Medikament als Orphan Drug zugelassen, dann ist es die einzige Therapie oder von erheblichem Nutzen für die Patienten. Davon braucht es mehr. © BC Y auf Pixabay.com

Es ist eine seltene chronische Erkrankung, bei der die Gallengänge in der Leber langsam zerstört werden: Die primär biliäre Cholangitis (PBC). Mögliche Folgen: Gallensäuren stauen sich in dem Organ, das Gewebe vernarbt irreversibel, Leberversagen. Auch das Krebsrisiko ist erhöht. Unter anderem aufgrund unspezifischer Symptome wie Müdigkeit, Bauchschmerzen und Juckreiz wird die Krankheit oft erst spät erkannt und behandelt. Immerhin: Anders als bei vielen anderen seltenen Leiden gibt es eine zugelassene Therapie – doch auf die Erstlinientherapie mit Ursodesoxycholsäure (UDCA) sprechen rund 40 Prozent der Betroffenen nicht oder nicht ausreichend an. Der medizinische Bedarf an Alternativen ist entsprechend hoch.

Erstmals seit fast einem Jahrzehnt gibt es mit „PPAR-Agonisten“ neue Hoffnung – sie aktivieren bestimmte Rezeptoren, die eine Rolle im Fettstoffwechsel spielen und antientzündliche Effekte haben. So sollen die Gallentoxizität verringert und die Cholestase – also der Stau von Gallenflüssigkeit – verbessert werden. In der Pharmazeutischen Zeitung spricht Chefredakteur Sven Siebenand in Bezug auf den ersten verfügbaren PPAR-Agonisten von einer „Sprunginnovation“ und verweist auf die „überzeugenden Ergebnisse der Zulassungsstudie“. Dieses Beispiel macht deutlich: Im besten Fall können Mediziner bei der Behandlung ihrer Patienten auf unterschiedliche Therapiemöglichkeiten zurückgreifen – denn jeder Mensch ist anders.

Orphan Drug: Einzige Therapie bzw. von erheblichem Nutzen

Sieht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) das anders? Jüngst hatte es in einer Pressemitteilung zum Thema Orphan Drugs implizit den Eindruck erweckt, dass bei bestehenden Therapiemöglichkeiten kein ungedeckter medizinischer Bedarf mehr bestünde. An der Versorgungsrealität der Patienten mit seltenen Erkrankungen würde eine solche Einschätzung wohl weit vorbeigehen. Daher gilt es, die Forschung in diesem Bereich weiter zu fördern – wie es die Europäische Union (EU) seit 2000 macht: Sie setzt bestimmte wirtschaftliche Anreize, damit Pharmaunternehmen auch gegen Krankheiten aktiv werden können, die nur wenige Menschen betreffen und daher aus wirtschaftlicher sowie wissenschaftlicher Sicht eine besonders große Herausforderung sind. Damit ein Präparat als „Orphan Drug“ gefördert wird, muss es strenge Voraussetzungen erfüllen – etwa, was die Seltenheit und besondere Schwere der Erkrankung angeht. Außerdem darf es keine andere (zufriedenstellende) Methode für die Behandlung geben – oder das neue Präparat muss von erheblichem Nutzen sein.

„Eine Zulassung als Orphan Drug bedeutet stets eine klare Orientierung am medizinischen Bedarf“ – mit diesen Worten wendet sich der Pharmaverband vfa gegen das IQWiG. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA überprüft vorab, ob es bereits eine andere Methode der Behandlung gibt – und wenn ja, ob ein erheblicher Zusatznutzen „und damit ein bedeutender Beitrag zur Patientenversorgung“ vorliegt.

Orphan Drugs: Versorgungslücken drohen schnell

Aus diesem Grund ist es nur sinnvoll und ressourcenschonend, dass der Zusatznutzen von Orphan Drugs im nachgelagerten deutschen Verfahren der Nutzenbewertung und darauf basierenden Preisverhandlung („AMNOG“) durch die europäische Zulassung als bereits „belegt“ gilt. Das IQWiG und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) müssen nur noch das Ausmaß des Zusatznutzens ermitteln – dieses Vorgehen führt dazu, dass im europäischen Vergleich in Deutschland besonders viele Orphan Drugs besonders schnell verfügbar sind.

Übrigens: Die Bewertung der EMA ist speziell auf die Besonderheiten von Orphan Drugs zugeschnitten – im Gegensatz zum deutschen Verfahren. Medikamente gegen Leiden, die wenige Menschen betreffen und schwerwiegend sind, können oft nicht dieselben Evidenz-Anforderungen erfüllen wie Arzneimittel gegen Volkskrankheiten. So zeigt selbst eine Untersuchung des IQWiG, dass der Zusatznutzen von Orphan Drugs, die nach Übertreten einer bestimmten Umsatzschwelle eine AMNOG-Vollbewertung durchlaufen müssen, oft als nicht belegt eingestuft wird – meist liegt es daran, dass geforderte Daten nicht ausreichend erbracht werden können. Das IQWiG jedoch macht einen Zirkelschluss: Statt zu hinterfragen, inwiefern die Grenzen der eigenen Methodik vermehrt zu diesen Negativ-Ergebnissen führen können, stellt es den (von der europäischen Behörde EMA zugesprochenen) Mehrwert der jeweiligen Präparate in Frage und fordert, dass künftig alle Orphan Drugs das AMNOG nach denselben Regeln wie andere Arzneimittel durchlaufen.

Würde es dazu kommen, wären wohl dramatische Versorgungslücken die Folge. Die Unternehmensberatung Simon-Kucher & Partner hat das im Auftrag des vfa untersucht: 79 Prozent der Therapien würden einen Zusatznutzen wegen „formaler Gründe“ nicht mehr erreichen – und wären in der Folge „einem dramatischen Preisverfall ausgesetzt“. Mindestens jedes zweite Orphan Drug würde heute wahrscheinlich fehlen (s. Grafik): „Denn 57 Prozent der Orphans zeigten ein sehr hohes Marktrücknahmerisiko, weil ihr Preisniveau sehr stark – teilweise auf Generikaniveau – gesunken wäre“, fasst der Pharmaverband zusammen. Noch kritischer wäre die Situation bei „besonders innovativen Gen- und Zelltherapien“. Dabei ist ein AMNOG-Beschluss „kein Abbild der Versorgungsrealität“, wie auch der vfa betont. Das zeigt etwa eine Therapie gegen die akute myeloische Leukämie, welche – auch nach Auffassung des G-BA – den aktuellen Therapiestandard darstellt, zuletzt aber von eben jenem G-BA einen „nicht belegten“ Zusatznutzen bescheinigt bekam. Der „hohe aktuelle Stellenwert in der klinischen Versorgung“ konnte bei der Zusatznutzenbewertung „bedauerlicherweise nicht abgebildet werden“, hieß es da. Leidtragende sind im Zweifel die Patienten. Für den vfa ist klar: „Die Orphan Drug-Regelung im AMNOG muss deshalb erhalten bleiben“.

Warum es nicht ausreicht, bestehende Fördermechanismen und Regelungen zu erhalten – und was noch im Sinne der Menschen mit seltenen Erkrankungen passieren sollte? Dazu mehr im kommenden Pharma Fakten-Beitrag, der am 12.02.2025 erscheint.

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