Rezension von Dr. Aide Rehbaum

www.kreativ-schreibstudio.de

 

Bettina Flitner: Meine Schwester

© Bettina Flitner

Der auf den ersten Blick belanglose Titel verrät nicht, was sich in der Familie der Autorin Dramatisches abgespielt hat. Der Text führt den Leser allmählich hinter die Kulissen, die für Außenstehende eine heile Welt vorspiegeln. Im Zentrum steht eine Art Lebensgemeinschaft zum Abgewöhnen, genannt „Familie“.

Als die Autorin erfährt, dass sich ihre ältere Schwester, genau wie die Mutter Jahrzehnte zuvor, erhängt hat, läuft die Kindheit in zusammenhanglosen Episoden vor ihr ab. Obwohl sich dem Leser manchmal die Haare sträuben, kommen die Geschichtchen nett und humorvoll daher. Die damals verdrängten Spuren, die die Vernachlässigung hervorgerufen haben müssen, sind in der Rückschau vermutlich geschönt und nivelliert. Die Story hat weder roten Faden noch einen Spannungsbogen, die Abschnitte wirken wie assoziativ verlinkt. Flitner versucht verzweifelt, den Ursachen für den Suizid auf den Grund zu gehen. Dennoch erkennt sie, dass schon die vorhergehende Generation für Depressionen anfällig war und sowohl Mutter und Schwester ihre Medikamente absetzten.

In der Kindheit war die phantasievolle, immer zu Streichen aufgelegte Schwester der einzig feste, dazu bewunderte Bezugspunkt für die Jüngere. Der Vater nahm die Seinen zwar zu jeder neuen Stelle im Ausland mit, überließ sie aber weitgehend sich selbst. Die Mutter weiß ohne Bewunderer mit sich nichts anzufangen, selbst Shopping füllt sie nicht aus, bis sie endlich antriebslos bzw. manisch-depressiv von einem Geliebten zum andern tingelt und sich um ihre Töchter nicht mehr kümmert. Niemand greift ein.

Der Autorin wird bewusst, dass ihre Schwester in die Fußstapfen der Mutter getreten ist. Während sie selbst sich von der Rollenverteilung der Familienaufstellung radikal emanzipierte und in beruflicher und sexueller Hinsicht ihren eigenen Weg fand, tritt die Schwester auf der Stelle. Schönheit allein ist auf Dauer zu wenig um einem Leben Sinn zu geben. Als sie arbeitslos wird, zerbricht sie an der inneren Leere. Ihr klammernder Mann nimmt sich später ebenfalls das Leben. Flitner macht sich den Vorwurf, Alarmsignale ihrer Schwester ignoriert zu haben. Wo ließ sie sich in die Irre führen, weil es bequemer war? Das durchaus bewegende Buch ist ein Verarbeitungsversuch ohne literarischen Anspruch.

 

Bettina Flitner ist 1961 in Köln geboren, wo sie auch heute wieder lebt. Sie startete als Filmemacherin, arbeitet aber nach ihrem Studium an der Film- und Fernsehakademie in Berlin als Fotografin. Oft kombiniert sie in ihren Arbeiten, die in vielen Galerie- und Museumsausstellungen gezeigt wurden, Fotografie und Text. Sie arbeitet u.a. für Zeitschriften (Stern, Emma, Cicero) und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Zuletzt erschien im Elisabeth Sandmann Verlag ihr Bild-Textband »Väter & Töchter«.

 

Verlag: Kiepenheuer&Witsch

  • 320 Seiten
  • ISBN: 978-3-462-00237-9
- ANZEIGE -