Lust und Frust

Ukraine und Moldau sind jetzt EU-Beitrittskandidaten. Damit drohen Stillstand und Frustration, wie der Blick auf den Balkan zeigt.

 
Ukraine und Moldau sind jetzt EU-Beitrittskandidaten ©seppspiegl

Die Ukraine sowie die Republik Moldau sind nun offiziell Beitrittskandidaten zur Europäischen Union. Mit der Beitrittsperspektive soll insbesondere gegenüber Kiew ein Zeichen der Solidarität und Unterstützung gesetzt werden. Doch was für eine Art Versprechen wird dem Land, das sich gegenwärtig mutig gegen den Überfall Russlands verteidigt, damit gegeben? Welcher steinige Weg steht der Ukraine (und Moldau) nun bevor? Dazu lohnt ein Blick auf die Staaten des westlichen Balkans, die sich seit zwei Jahrzehnten mit Lust und Frust der Beitrittsperspektive abmühen.

Montenegro und Serbien verhandeln bereits seit rund einem Jahrzehnt, der Durchbruch in Kernthemen des Beitrittsprozesses wie der Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung ist dabei noch nicht gelungen. Nordmazedonien und Albanien haben alle Voraussetzungen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen geschaffen, doch bedingt durch das Veto des EU-Mitgliedstaats Bulgarien aufgrund von identitätspolitischen Argumenten gibt es hier keinen Fortschritt. Auch der Gipfel vom 23. Juni konnte die Blockade nicht lösen. Bosnien-Herzegowina hat weitere Auflagen für einen Kandidatenstatus zu erfüllen, Kosovo hat mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass weiterhin fünf EU-Mitgliedstaaten die Unabhängigkeit des Landes nicht anerkennen. Zudem ist es das einzige Land des Balkans, das noch Visa für die Einreise in die EU benötigt, obwohl auch dazu alle Voraussetzungen geschaffen sind.

Keine Frage, alle Länder des westlichen Balkans gehören zu Europa und sollen einst vollwertige Mitglieder der Europäischen Union werden. Und fraglos gibt es in allen diesen Staaten Reformbedarf, nicht zuletzt bei der Korruptionsbekämpfung, dem Kampf gegen die organisierte Kriminalität, der Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und in vielen anderen Feldern. Diese Probleme anzugehen, liegt im Interesse der Bevölkerung und der Zukunftsfähigkeit der Gemeinschaften in diesen Ländern. Der EU-Beitrittsprozess bietet dafür einen klaren Fahrplan, Druck von außen – ohne den es nicht gehen wird – sowie Ressourcen und Unterstützung im Reformprozess. Gleichzeitig stehen die Ziele dieser Reform-Anstrengungen häufig im Gegensatz zu den persönlichen Interessen der politischen Elite der Länder, die diese Veränderungen ins Werk setzen sollen. Sie würden ihre Quellen von Macht und Einkommen austrocknen.

Unter den politischen Beraterinnen und Verantwortlichen gibt es eine rege Debatte, wie der EU-Beitrittsprozess effektiver gemacht werden kann, um tatsächlich die gewünschten Ergebnisse auch zu liefern und nicht nur Stillstand und Frustration zu produzieren. Manche wählen in dieser Debatte einen pragmatischen Ansatz: Man solle sich auf das konzentrieren, was wirklich funktioniert, und das ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Durch Abbau von Handelshemmnissen, eine engere Integration in die Wertschöpfungsketten der EU, Auslandsinvestitionen auf dem Balkan, Arbeitsplätze und Wohlstand, kann eine schrittweise Integration in die Europäische Union gelingen. Erfolgreich kann das jedoch nur sein, wenn Rechtssicherheit und eine funktionierende Verwaltung bestehen. Das Fernziel bleibt dabei weiter die volle Mitgliedschaft.

Doch schwierige Felder wie beispielsweise die Beilegung regionaler Konflikte, die demokratische Teilhabe und Medienfreiheit sowie die politische Mitbestimmung in der Europäischen Union müssen zunächst zurückgestellt werden. Fortschritte können jedoch erzielt werden, indem Zwischenschritte eingezogen werden, die auf dem Weg zum Ziel bereits größere Vorzüge bereitstellen. So wird beispielsweise vorgeschlagen, den Kandidaten schon früh Zugang zu den mächtigen EU-Strukturfonds zu geben, um schneller zu den Mitgliedsstaaten aufschließen zu können.

Die politische Dimension der Erweiterung, so schlagen andere in dieser Debatte vor, können durch einen neuen geopolitischen Rahmen geschaffen werden. So haben Ratspräsident Charles Michel und der französische Präsident Emmanuel Macron unterschiedliche Spielarten einer geopolitischen Gemeinschaft ins Spiel gebracht, die unabhängig von der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein deutliches Zeichen der Zusammengehörigkeit in Zeiten eskalierender geopolitischer Konflikte setzen soll, und die auch für die Staaten des westlichen Balkans sowie die Ukraine, Moldau und Georgien offen stehen soll. Ohne dabei, wie beschwichtigend ergänzt wird, eine Alternative zur vollen Mitgliedschaft in der Europäischen Union darzustellen.

Ein Schlüssel zur Auflösung dieser schwierigen Gemengelage im EU-Beitrittsprozess liegt in der Demokratisierung der Gesellschaften.

Und schließlich fordert ein Teil der Debatte, die EU möge sich auf ihre Grundsätze besinnen: „back to the fundamentals“. In den Kopenhagener Kriterien sind als Voraussetzung für den EU-Beitrittsprozess Standards der Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft festgelegt. Nur eine Rückbesinnung insbesondere auf diese fundamentalen Voraussetzungen könne den EU-Beitrittsprozess wieder die transformative Kraft verleihen, die notwendig ist, um einschneidende Reformen in den Kandidatenländern zu verlangen. Gleichzeitig muss eine solche Rückbesinnung auf die Grundlagen der Europäischen Union auch den inneren Reformprozess leiten, um die Strahlkraft der europäischen Union wieder zum Leuchten zu bringen.

Sicherlich wird es ohne einen gesunden Pragmatismus keine Fortschritte geben können. Doch die tiefgreifenden Konflikte zwischen einer in Teilen kleptokratischen Elite und dem Reformanspruch des EU-Beitrittsprozesses lassen sich nicht allein mit gesundem Menschenverstand auflösen. Die wolkigen Formulierungen einer geopolitischen Gemeinschaft, die im Vorfeld des Gipfels vom 23. Juni zirkulierten, haben die Beratungen der Staats- und Regierungschefs nicht beflügeln können. Offenbar sind substanziellere und belastbarere Bündnisse und Regeln notwendig. Die Rückbesinnung auf die Grundlagen der EU darf – unausweichlich wie sie ist – jedoch nicht dazu führen, dass die Staaten in unserer Nachbarschaft im ewigen Warteraum versauern, weil sie den hehren Ansprüchen, die – wenn man ehrlich ist – auch längst nicht alle Mitgliedstaaten erfüllen können, nicht genügen.

Ein Schlüssel zur Auflösung dieser schwierigen Gemengelage im EU-Beitrittsprozess liegt in der Demokratisierung der Gesellschaften. Nur wenn es gelingt, Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft und die dafür notwendigen Reformen in der Bevölkerung der betreffenden Länder zu gewinnen, kann auch der innere Druck aufgebaut werden, um die Blockaden zu überwinden. Dazu sind politische Partner wichtig, die für diesen Beitrittsprozess werben, die Vorzüge der Mitgliedschaft erklären und die notwendigen Mühen verteidigen.

Die Demokratisierung der Gesellschaft geht dabei weit über die im EU-Beitrittsprozess vorgesehenen Schritte hinaus und bezieht beispielsweise auch die Mitbestimmung am Arbeitsplatz und die Gewerkschaften mit ein. Zu oft hat die Europäische Union dabei auf Kräfte gesetzt, die uns versprochen haben, vorrangig die Korruption in ihren Ländern zu bekämpfen und die alten Eliten abzulösen, nur um dann selbst an die Fleischtöpfe der Macht vorzudringen.

Damit die Beitrittsperspektive für die Ukraine nicht – wie im Westbalkan – zur Chiffre für Frustration und Enttäuschung wird, brauchen wir Partner in den Ländern, die nicht nur Stabilität und Kontrolle versprechen, sondern die unsere Werte teilen und auch ihr Handeln daran messen lassen. Das gilt freilich nicht nur für den Kreis der nun auf neun angewachsenen Länder im EU-Integrationsprozess, sondern auch für die Blockierer innerhalb der EU.

Dr. Max Brändle leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Belgrad. Zuvor war er Leiter des FES-Büros in Kroatien.

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