Leise rieselt… gar nichts mehr
Von Gisbert Kuhn

Natürlich hängt es mit dem Älterwerden zusammen. Die Jahre, Monate und Tage verrinnen, gefühlt, immer schneller. Und es beißt ja nun mal auch keine Maus einen Faden von der Erkenntnis ab, dass die noch verbleibende Lebenszeit absehbar kürzer wird. Fast automatisch daher richtet sich der Blick – häufiger als früher – rückwärts. Längst vergessene Namen tauchen auf, weit in der Vergangenheit liegende Erlebnisse und Begebenheiten werden wieder wach. Sie lassen einen schmunzeln, mitunter auch ein bisschen Wehmut verspüren. Kurzum, es ist durchaus angenehm, von Zeit zu Zeit ein wenig in Nostalgie zu baden.
Dabei fließen freilich Erinnerung und Realität nicht selten relativ rasch ineinander. Gerade jetzt, zum Beispiel, wenn von den Weihnachtsmärkten ununterbrochen musikalisches Winter- und Weihnachtsgesäusel auf die Besucher rieselt. Dabei ist von der besungenen weißen Pracht weit und breit nichts zu sehen. Und zwar nicht zum ersten Mal. Bei den um diese Zeit schon seit Jahren hier herrschenden Temperaturen wäre mitunter sogar der Verkauf von Eistee lohnender gewesen als der angepriesene Glühwein. Prompt schaltet sich an dieser Stelle die Erinnerung ein. Weihnachtsmärkte?, fragt das Gedächtnis. Noch dazu schon im November? Nein, so etwas gab es in Deiner Kindheit nicht. Aber dafür rieselte es um diese späte Herbstzeit im Weserbergland mitunter schon ordentlich. Nämlich richtiger Schnee. In den Pausen tobten auf dem Schulhof wilde Schneeballschlachten. Und Bauer Fricke musste täglich seine beiden braunen Kaltblüter vor den hölzernen Schneepflug spannen.
Bei solchen Erzählungen würde vermutlich sofort der Deutsche Wetterdienst aufmerken und (mit entsprechenden Belegen) nachweisen, dass (wie so oft) die Erinnerung keineswegs präzise sei und auch „früher“ nicht immer schon im Spätherbst, besonders aber über Weihnachten winterlich verzauberte Landschaften die Menschen erfreut hätten. Doch es liegt nun einmal in der menschlichen Natur, dass sich hauptsächlich die schönen und erfreulichen Dinge in den Winkeln der kleinen grauen Zellen festsetzen, um sich dann bei Bedarf zu melden. Oder, wie der Schriftsteller Jean Paul erkannte, „die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Die Bilder von der weißen Weihnacht lassen sich darum auch nicht verscheuchen. Sollen sie ja auch nicht.
Trotzdem, wir leben inmitten eines Wandels. Und zwar eines tiefgreifenden, ja vielleicht sogar dramatischen Wandels. Dabei spielt das Ausbleiben des November- und Dezemberschnees möglicherweise sogar eher eine Nebenrolle. Das Wetter spielt verrückt, die Zahl der Hurrikane nimmt zu, ebenso wie die der Dürreperioden. Die unterschiedlichen Wettervorgänge nennt man Klima. Und da tut sich in der Tat viel Unliebsames. Doch offensichtlich passen sich die Menschen in ihrem Verhalten den Kapriolen der Natur an. Zumindest eine erkleckliche Anzahl Angehöriger der Rasse „homo sapiens“. Im Prinzip reicht bereits ein kurzer Blick in das, was gemeinhin als „soziale Medien“ bezeichnet wird. Dort ist es im Grunde schon längst egal, ob beim täglichen Ausgießen von Hass, Lügen, üblen Nachreden und Missverstehenwollen nicht vielleicht wenigstens während jener kurzen Zeitspanne etwas Zurückhaltung geübt wird, die man früher das „Fest der Liebe“ nannte – also zu Weihnachten, der „Weihe“-Zeit.
Vor wenigen Tagen gab es in der kleinen Gemeinde Niederkassel, nahe Bonn, gewaltige Aufregung. Und wie das in Zeiten von facebook, Twitter und dergleichen unausweichlich ist, griff die Empörung in kürzester Zeit auf erhebliche Teile des Rheinlands über. Was war geschehen? Ein als St. Martin gekleideter netter Mann hatte am St-Martins-Tag (wie es sich im Rheinland geziemt) Kindern so genannte Weckmänner geschenkt. Bei einem Kind tat er das (vielleicht, weil die Mutter anhand ihrer Kleidung als Muslima erkennbar war) mit dem Zusatz: „Weißt Du, das ist ein christliches Fest“. Die wegen angeblicher Religions-„Diskriminierung“ empörte Mutter stellte jedenfalls daraufhin ihre Version sofort ins facebook. Und innerhalb von Minuten verbreitete sich der „Skandal“ rund um den Erdball. Ergebnis: Der St. Martin wurde unverzüglich seines Amtes enthoben.
Nun ist ja, erstens, wirklich nicht zu bestreiten, dass der St.-Martins-Tag eine christliche Tradition beinhaltet. Zweitens hat der Mann dem muslimischen Kind den Weckmann keineswegs vorenthalten, sondern – wenn man so will – seine Kenntnisse von rheinischen Bräuchen erweitert. Drittens hat die (möglicherweise missverstehen wollende Mutter) gar nicht erst das Gespräch mit dem Mann gesucht, sondern stattdessen augenblicklich die elektronische „Öffentlichkeit“. In der, viertens, selbstverständlich und erwartungsgemäß postwendend, ein Shitstorm losbrach. Schließlich fünftens: Was ist das eigentlich für eine Stadtverwaltung und was sind das für Organisatoren des St.-Martins-Zuges, die – ohne jegliche voran gegangene Untersuchung der Angelegenheit – in vorauseilender Angst vor möglicher Kritik eine Symbolfigur einfach in die Wüste schicken?
Was lehrt uns das? Eigentlich gar nichts. Es macht einfach nur betroffen und auch traurig. In Deutschland herrscht, zum Glück, eine von der Verfassung geschützte Glaubens- und Religionsfreiheit. Es gibt, ebenfalls zum Glück, keine Staatsreligion mehr. Das bedeutet, dass es jedem Einzelnen selbst überlassen bleibt, ob überhaupt und (wenn ja) wie er seine Beziehung zu Gott und der Schöpfung definiert. Doch daraus erwächst natürlich jedem zugleich auch eine Verpflichtung. Nämlich die, anständig miteinander umzugehen, anderen Meinungen gegenüber tolerant und aufgeschlossen zu sein und für das Zusammenleben eine Sprache zu wählen, die sich ganz einfach an den althergebrachten Maximen orientiert: „Das tut man, und das tut man nicht“.
Aber gerade jenes in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland entstandene Neben- und Miteinander so zahlreicher unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Gebräuche beinhaltet natürlich auch eine besondere Herausforderung für die „alteingesessene“ Bevölkerung. Denn nur derjenige wird mit seiner ererbten Identität bestehen können, der auch die Grundlagen dessen kennt und wertschätzt, worauf seine eigene Kultur, Lebensphilosphie, seine sozialen und moralischen Wertmaßstäbe basieren. Nur der wird immun sein gegen plumpe Fremdenfeindlichkeit und jede Art von Antisemitismus. Allerdings wird vermutlich auch nur der mutig genug und außerdem genügend befähigt sein, offensiv gegen plumpe Parolen und scheinbar einfache Heilslehren anzugehen.
Was das alles mit Weihnachten zu tun hat? Das ist doch ganz simpel. Weihnachten ist ein christliches Fest. Die Christenheit feiert als Tradition die Geburt Christi – ihres Religionsstifters. Und die Menschen nahmen sich früher auch Zeit, sich auf das hohe Fest vorzubereiten. Die Advents-Zeit, die Zeit der Ankunft. Natürlich werden zu Geburtstagen auch Geschenke verteilt. In diesem Fall in Erinnerung an die Geburt Jesu. Ob sich heute noch Viele dessen bewusst sind? Ob – natürlich nicht nur Kindern – dieser Zusammenhang genügend nahe gebracht wird? Oder ob vielleicht nicht schon längst (und total) die Fragen von Kommerz einerseits und Konsum auf der anderen Seite das Denken, Fühlen und Wünschen unserer Gesellschaft in ihre Fesseln genommen haben?
Dann allerdings wäre es sowieso völlig egal, ob irgendwann einmal wieder in der Weihnachtszeit der Schnee aus dem Wolken herabrieseln und uns die ersehnte weiße Weihnachten bescheren würde. Im Gegenteil – die vermutlich rasch zu Matsch schmelzenden Flocken würden ja das Einkaufsgetümmel zu X-mas nur stören.
Kommentare und Bemerkungen an gisbert.kuhn@rantlos.de
Zu dem Angemerkt „Leise rieselt…“ meint rantlos-Leser Dr. Walter Schmitz, Bonn:
Endlich schreibt ein Vollblutjournalist mal über diese Gefahr, die von den sozialen Medien ausgeht. Nach meiner Überzeugung gefährden Vorgänge um den St. Martin unsere Demokratie. Das Grundgesetz spricht von „Mitwirkung bei der politischen Willensbildung“. Son ein Shitstorm ist irreführende Demagogie. Mir ist unverständlich, wie Politiker, Vereinsmeier und ein großer Teil der Journaille keine abgewogene Meinung mehr entwickeln und nur noch im Mainstream mitschwimmen. Danke für die mutige Aufklärung.
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