Rezension von Dr. Aide Rehbaum
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© Jürgen Bauer

Als eine (fiktive?) Autorin nach der Lesung Bücher signiert, wird sie von einer Frau angesprochen, die behauptet ihre Halbschwester zu sein. Im Nachhinein wird die Ich-Erzählerin davon wie gelähmt.

Den Schock verstärkt die Erkenntnis, dass die Mutter immer von der Existenz dieses Kindes wusste, sie ihren Töchtern gegenüber nur nie erwähnt hat. Denn die Halbschwester wurde geboren, bevor sich die Eltern begegneten. Da sie aber bald zur Adoption freigegeben wurde, musste der Vater nicht mal Alimente bezahlen. Die Mutter hat offenbar auch nicht darunter gelitten, sondern die Ehe der Eltern wurde viel später aus anderen Gründen geschieden. Die ältere Schwester der Hauptfigur misst dem Auftauchen der Halbschwester keine Bedeutung bei.

Kurz nach der Lesung reist die Ich-Erzählerin mit Mutter und Kindern nach Amerika, wo sie einen Lehrauftrag hat. Ihre Angehörigen bleiben schemenhaft distanziert und tragen nicht mal Namen. Merkwürdig teilnahmslos betrachtet sie ihre Familie, als habe sie Furcht vor noch mehr Überraschungen. Verständnislos steht sie amerikanischen Erziehungsvorstellungen gegenüber. Nicht mal der Besuch ihres Mannes weckt Leidenschaft oder Begeisterung. Je öfter sie Gedanken an das Zusammentreffen mit der fremden Verwandten überwältigen, umso mehr gerät sie in einen Sog des Misstrauens auch ihren eigenen Erinnerungen gegenüber, bis sie sich in die Idee hineinsteigert, betrogen zu werden.

Das Drama Wiedervereinigung, das die Werte in Frage stellte, wird auch im Austausch mit den amerikanischen Studenten nur beiläufig erwähnt. Gefühle, die bei vielen Lesern im Alltagstrubel untergehen, werden von Schoch unter die Lupe genommen, quasi seziert, während sie ihr Gedächtnis nach Spuren ihrer Kindheit in einer entlegenen Region der DDR durchstöbert.

Erst spät rafft sich die Schriftstellerin zu einer Kontaktaufnahme mit der Halbschwester auf. Obwohl der Roman kaum Handlung beinhaltet, nimmt der schlichte aber dennoch prägnante Schreibstil gefangen. Die analysierten Beobachtungen motivieren zum entspannten Hinterherdenken und Vergleichen.

 

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ). Zuletzt veröffentlichte sie die Romane ›Das Vorkommnis‹, ›Das Liebespaar des Jahrhunderts‹ und ›Wild nach einem wilden Traum‹ als die drei Bücher ihrer gefeierten Trilogie ›Biographie einer Frau‹. 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Sie lebt in Potsdam.

 

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Bibliografische Daten
EUR 22,00 [DE] – EUR 22,70 [AT]
ISBN : 978-3-423-29021-0
Erscheinungsdatum: 16.02.2022
4. Auflage
192 Seiten
Format : 12,8 x 21,0 cm
Sprache: Deutsch
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