“Falscher Streit über falsche Dinge”
Sie befassen sich seit Jahrzehnten mit Migrationspolitik. Wie ist das Thema zu einer so heiß diskutierten Streitfrage geworden – und wie kann es politisch weitergehen?
Momentan ist die Migrations- und Flüchtlingspolitik ein heilloses Durcheinander. Es ist ein defektes System. Im Grunde verdient es nicht einmal die Bezeichnung „System“. Wie ist es zu einem derartigen Schlamassel geworden, in dem sich die Richtlinien Woche für Woche ändern? Das ist, nebenbei gesagt, ein Symptom eines absolut defekten Systems: dass wöchentlich die Richtlinien geändert werden müssen. Das ist untragbar.
Wie konnte es soweit kommen? Durch unglaublich unverantwortliche, kurzfristige politische Entscheidungen von zentralen Figuren in Europa – allen voran Angela Merkel, die das Flüchtlingsproblem, als es 2011 begann, zunächst weitgehend ignorierte, um 2015 dann panisch aufzuwachen. Nun öffnete sie sehr unverantwortlich und einseitig die Türen in dem Glauben, dass lediglich 10.000 Menschen kommen würden, und schlug diese Tür sechs Monate später genauso einseitig wieder zu, indem sie einen unglaublich teuren Deal mit Erdogan – einem wirklich netten Mann – aushandelte und versuchte, die anderen europäischen Länder dazu zu zwingen, die Flüchtlinge aufzunehmen, die sie einseitig hereingelassen hatte.
Das ist wirklich eine erstaunliche Verantwortungslosigkeit und so läuft natürlich auch die Europapolitik derzeit aus dem Ruder. Dabei gibt es einfache politische Richtlinien, die nachhaltig wären. Da müssen wir hinkommen: Wir müssen einige nachhaltige politische Richtlinien aufstellen.
Bevor wir auf diese Richtlinien zu sprechen kommen, möchte ich noch fragen, was die wichtigsten treibenden Kräfte für die Migration sind, und wie sich diese Faktoren Ihrer Meinung nach in der Zukunft entwickeln werden. Wird sich das Problem langfristig gewissermaßen von selbst erledigen?
Zunächst müssen wir meines Erachtens ganz deutlich zwischen Migration und Flucht unterscheiden. Flüchtlinge sind eine Untergruppe der Menschen, die ihre Heimat verlassen. Diejenigen, die nicht aus freien Stücken auswandern, sondern vertrieben werden, sind also per Definition Vertriebene oder Flüchtlinge. Sie wollen nicht auswandern und sind daher auch keine Migranten. Das ist der erste Punkt.
Die meisten Vertriebenen finden innerhalb ihres Heimatlandes einen Ort zum Leben und werden daher als Binnenvertriebene bezeichnet – weltweit etwa 65 Millionen. Rund ein Drittel der Vertriebenen verlassen ihr Heimatland über die nächstgelegene Grenze und werden so rechtlich gesprochen zu Flüchtlingen. Die meisten von ihnen finden gleich hinter der Grenze ihre Heimatlandes Zuflucht, also in unmittelbarer Nachbarschaft zum Konfliktgebiet. Weltweit existieren zehn solcher regionalen Zufluchtsstätten, in denen die Mehrheit aller Flüchtlinge lebt. Das ist das eigentliche Flüchtlingsproblem: für die Flüchtlinge in diesen regionalen Zufluchtsorten zu sorgen.
So wie die meisten syrischen Flüchtlinge im Libanon sind oder …
Sie sind im Libanon, in der Türkei und in Jordanien. Alex Betts und ich wurden in all das involviert, weil wir gemeinsam nach Jordanien eingeladen wurden. Dort waren fast eine Million Flüchtlinge untergekommen, die nun vollkommen in der Luft hingen. In der Türkei bekamen zwei Millionen Flüchtlinge keine Hilfe, oder fast keine Hilfe. „Euer Problem“: Das war die absurd unverantwortliche Reaktion aus Europa und genau das war der Kern des Flüchtlingsproblems: das Versagen, an Ort und Stelle auf die Krise zu reagieren.
Das von den Vereinten Nationen Anfang der 50iger-Jahre gegründete Flüchtlingshilfswerk, UNHCR, entstand in dem vollkommen anderen Kontext der Probleme der späten 40iger-Jahre. Damals bestand die Lösung in Zeltstädten mit kostenloser Verpflegung und Unterkunft, was in den späten 40ger-Jahren eine sinnvolle Lösung in Europa war. Für die heutige Flüchtlingssituation ist es nicht mehr sinnvoll.
Das ganze UNHCR-System wird von 90Prozent der Flüchtlinge weltweit ignoriert, weil es nicht dem entspricht, was sie wollen. Sie wollen ihre Selbständigkeit zurückhaben. Stellen Sie sich vor … Sie mussten aus Ihrer Heimat fliehen. Sie wollen selbständig sein, Sie wollen Ihre Gemeinschaft wiederherstellen, und der einfachste Weg, das zu erreichen, ist in eine Stadt zu gehen. Und das ist, was die meisten Flüchtlinge tun: Arbeit in einer Stadt suchen.
Die nach Jordanien gelangten syrischen Flüchtlinge waren in gewissem Sinne im Paradies: dieselbe Religion, dieselbe Sprache. Der große Unterschied bestand darin, dass in Jordanien das Pro-Kopf-Einkommen sechs Mal so hoch wie in Syrien ist. Wenn daher ein Syrer einen Arbeitsplatz in Jordanien finden könnte, ginge es ihm sehr gut. Er hätte dort den Himmel auf Erden erreicht. Für die jordanische Regierung wurde das jedoch eher zu einem „höllischen“ Problem, denn sie konnte nicht zulassen, dass andere Menschen – die Syrer – die jordanische Bevölkerung im Kampf um Arbeitsplätze unterbieten. Alex und ich schlugen der Regierung eine Strategie vor mit der Frage: „Wenn es uns gelänge, dass dies sowohl den Jordaniern als auch den Flüchtlingen zugutekäme, würden Sie den Flüchtlingen dann erlauben zu arbeiten?“ Die Idee war, dass Europa für Arbeitsplätze sorgt – sowohl für Flüchtlinge als auch für die jordanische Bevölkerung.
Die Jordanier selbst sagten: „Wir teilen das auf: Von 100 geschaffenen Arbeitsplätzen sind 70 für Flüchtlinge und 30 für Jordanier“. Weiterhin hieß es von jordanischer Seite: „Wenn es gelingt, wenn Arbeitsplätze hergebracht werden können, wenn Unternehmen hergebracht werden können, denn wir brauchen unbedingt Unternehmen – wir stecken in der Falle des mittleren Einkommens, wir brauchen Unternehmen – wenn es also gelingt, Unternehmen herzubringen, werden wir bis zu 200.000 Arbeitserlaubnisse ausstellen.“ Das wäre ein Arbeitsplatz für jede Flüchtlingsfamilie gewesen.
Ihre Idee bestand also im Grund darin, Anreize für alle Seiten zu schaffen?
Ja, natürlich. Es wäre verrückt gewesen, mit erhobenem Zeigefinger zu fordern: „Sie sollten ihnen Arbeitsplätze geben.“ Wir können die Globalisierung dazu nutzen, dort Arbeitsplätze zu schaffen, wo die Flüchtlinge sind. Europa – und insbesondere Deutschland – war bestens ausgerüstet, das zu tun. Mit all den bereits in der Region tätigen Unternehmen war Deutschland geradezu prädestiniert dafür.
Deutsche Unternehmen haben über die Jahre Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Türkei geschaffen. Das hat keine Arbeitsplätze in Deutschland gekostet. Ganz im Gegenteil: Es hat zur Steigerung der Produktivität in Deutschland geführt, weil die weniger qualifizierten Arbeitsplätze, die weniger produktiven Arbeitsplätze in die Türkei verlagert wurden. Das ist Globalisierung in ihrer besten Form.
Aber die Antwort der UNHCR auf unseren Vorschlag lautete: „Wir sind keine Arbeitsvermittlung. Wir geben Flüchtlingen keine Arbeit. Wir versorgen sie mit kostenlosen Lebensmitteln und Zelten.“ Das ist das Problem. Die Menschen wollen nicht zehn Jahre lang kostenlos ernährt und in Zelten untergebracht werden. Sie wollen arbeiten. Was wurde verhandelt, als Merkel in die Türkei flog? „Einen nehmt ihr und einen nehmen wir zurück“, wobei eigentlich im Raum stand: „Wir wollen diese Menschen nicht. Nehmt ihr sie und wir nehmen dafür ein paar von denen, die ihr nicht wollt.“
Das ist nicht nur eine widerliche Formulierung, sondern auch eine verpasste Gelegenheit, die globale Wirtschaft dazu zu bringen, im Interesse der verzweifeltsten Menschen der Welt, der aus ihrer Heimat vertriebenen Flüchtlinge, zu arbeiten.
Zu Beginn des Gesprächs unterschieden Sie zwischen Vertriebenen, Flüchtlingen und anderen Migrationsursachen …
Ja. Natürlich gibt es viele Menschen, die gern Migranten wären. Hält man Flüchtlingen ein ausreichend großes Zuckerbrot unter die Nase, kann man sie zu Migranten machen. Wenn man sagt: „Komm und du bekommst ein Stipendium an der Harvard-Universität“, würden viele Flüchtlinge zu Migranten werden.
Was der Flüchtlingsstatus braucht, ist die Wiederherstellung zumindest eines gewissen Maßes an Selbständigkeit und ein sicherer Zufluchtsort. Ist das gegeben, gewährt Jordanien das, ist der Flüchtlingsstatus keine Essensmarke, mit der man losgeht, um irgendwo auf der Erde zu leben.
Ich könnte mein Einkommen verdoppeln, wenn ich nach Norwegen ziehen würde. Die große Mehrheit der Weltbevölkerung würde ihr Einkommen um sehr viel mehr als das Doppelte erhöhen. Darauf hat man aber kein Anrecht. Im Grunde ist es sehr traurig, wenn Menschen sich über die Bestrebung definieren, ihr Land verlassen zu wollen. Europa läuft ungewollt Gefahr, genau das mit Afrika zu tun.
Ich arbeite zu 90 Prozent meiner Zeit mit afrikanischen Regierungen, deren Albtraum es ist, dass ihre jungen Menschen allmählich dem Narrativ verfallen, dass ihre Hoffnung in der Auswanderung liege. Derzeit arbeite ich mit der Regierung von Ghana – eine sehr gute Regierung; der Präsident, Vizepräsident und Finanzminister sind sehr gute Politiker, besser als die obersten drei der meisten europäischen Länder. Ghanas BIP ist letztes Jahr um neun Prozent gestiegen. Die Regierung leistet gute Arbeit. Aber sie kann auf keinen Fall in diesem Jahr wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen, die besser sind, als einen Job in Europa zu finden – nie und nimmer. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir das Recht hätten, die klügsten und besten jungen Ghanaer und Ghanaerinnen nach Europa zu locken. Sie werden in Ghana gebraucht.
Manche hegen den Irrglauben, eine großartige, moralisch edle Tat zu vollbringen, wenn sie begabte junge Menschen mit den Worten „Willkommen in Europa“ von ihren wahren Verpflichtungen und Möglichkeiten in Afrika weglocken, damit sie dann frustriert auf den Straßen Roms leben, was viel eher der Realität entspricht. […] Afrika muss Millionen von Arbeitsplätzen schaffen. Stattdessen verführen wir Afrikaner und Afrikanerinnen zu Tausenden dazu, auf Boote zu steigen. Das ist überaus verantwortungslos und unethisch, denn, wenn die Menschen aus Afrika nach Europa kommen, erkennen sie die Wahrheit, stecken aber in der Falle, weil eine Rückkehr eine Bloßstellung vor ihren Freunden wäre.
Bloßstellung als Versager. Sie mussten zurück, sie haben es nicht geschafft.
Genau; genau, und so feiern wir uns selbst als gute Menschen und sind im Grunde zutiefst unethisch. Was Afrika braucht, ist eine Stärkung der Produktion und kein Anrecht auf Konsum. Afrika braucht unsere Almosen nicht, es braucht unsere Unternehmen. Bei unseren Bemühungen, Firmen dazu zu bewegen, nach Jordanien zu gehen, um Beschäftigung für Flüchtlinge zu schaffen, sprachen wir mit vielen Firmen. Wissen Sie, was für sie das größte Hindernis war?
Welches denn?
Die Unternehmen befürchteten, dass europäische Nichtregierungsorganisationen sie beschuldigen würden, Ausbeuterbetriebe mit Flüchtlingen zu betreiben, wenn sie nach Jordanien gehen würden. Dieselben NROs, die für sich beanspruchen, großartige Verteidiger von Flüchtlingen zu sein, waren tatsächlich das große Problem.
Man kann offensichtlich beides tun: Man kann menschenwürdige Arbeitsplätze schaffen, die sowohl in Bezug auf die Arbeitsbedingungen als auch die Arbeitsstandards menschenwürdig sind.
Natürlich, aber ehrlich gesagt, wenn man aus Syrien kommt, wo man selbst vor dem Krieg durchschnittlich 2.000 USD pro Jahr verdiente und jetzt in Jordanien ein Durchschnittseinkommen von 13.000 USD verdienen könnte, scheint so ziemlich jeder Job großartig.
Und natürlich wollten wir anständige Betriebe in die Gewerbegebiete bringen, die den gesetzlichen Bestimmungen in Jordanien entsprachen und wunderbare Arbeitsplätze für Syrer schaffen würden. Arbeitsstandards und so weiter wären kein Problem gewesen, überhaupt kein Problem. Das ist eine vollkommen unberechtigte Sorge.
Was stattdessen passierte, war, dass knapp fünf Prozent der Syrer nach Deutschland gingen, aber nur Ausgewählte. Wer ging nach Deutschland? Junge, wohlsituierte Männer, sodass jetzt 40Prozent aller syrischen Uni-Absolventen in Deutschland sind. Das ist so unverantwortlich, dass es angeprangert werden muss.
Wie erklären Sie es sich, dass gerade die Flüchtlingsfrage zu so einem polarisierenden Thema in Europa wurde?
Weil das Thema nicht durchdacht wurde. Da waren politische Entscheidungsträger am Werk, die ihrem Auftrag nicht nachgekommen sind, langfristig zu denken, was eine vernünftige, auf lange Sicht gute Politik wäre. Stattdessen scheinen sie von Woche und Woche, oder gar von Tag zu Tag auf die Ereignisse reagiert zu haben. Mit kurzfristigen Entscheidungen aufgrund kurzfristiger Ereignisse gerät man immer tiefer in ein Schlamassel. Wir sollten uns endlich fragen: „Wie sieht eine nachhaltige Politik aus?“ Ich glaube, dass wir sehr schnell einen breiten Konsens darüber finden können, wie eine solche nachhaltige Politik aussehen könnte – ein Konsens, dem sowohl die Linke wie die Recht zustimmen könnte.
Eine nachhaltige Politik wird sich durch drei Merkmale auszeichnen: Eins davon ist, das sie ethisch sein wird. Sie wird unseren ethischen Pflichten gegenüber den Flüchtlingen und gegenüber den Menschen in armen Ländern gerecht, die verzweifelt eine glaubwürdige Hoffnung brauchen. Sie brauchen eine Chance.
Worin bestehen diese Pflichten genau?
Eine der Pflichten gegenüber Flüchtlingen ist, dass wir Solidarität zeigen. Als 2011 der erste große Flüchtlingsstrom aus Syrien einsetzte, hatte Europa eine Verantwortung, genauso wie Jordanien, die Türkei und der Libanon.
Wir müssen Solidarität zeigen, aber wir beteiligen uns an den Solidaritätsmaßnahmen nach dem Prinzip des komparativen Vorteils. „Ihr Jordanier macht, was ihr am besten könnt: die Grenzen offenhalten, einen sicheren Zufluchtsort bereitstellen und den Menschen erlauben, zu arbeiten. Wir tun, was wir am besten können: In eurem eigenen Interesse als Jordanier solltet ihr das alles zulassen. Wir bringen die Arbeitsplätze, die den Flüchtlingen ihre Selbständigkeit wiedergeben, und wir stellen das Geld zur Verfügung, das die Sache für Jordanien rentabel werden lässt.“
Wir taten allerdings nichts. Jordaniens Haushaltsdefizit explodierte, weil das Land ohne Hilfe von außen für diese Flüchtlinge aufkam. Das ist die ethische Pflicht gegenüber Flüchtlingen. Die ethische Pflicht gegenüber Menschen, die in Gesellschaften leben, in denen es keine glaubwürdige Hoffnung gibt, besteht darin, ihnen glaubwürdige Hoffnung zu verschaffen.
Es gibt ganz eindeutige Dinge, die wir tun können, aber bisher nie getan haben – sehr eindeutige Dinge.
Was sind die wichtigsten davon?
Eins ist wirtschaftlicher und eins ist politischer Art. Wirtschaftlich gesehen – man denke an Clintons Wahlkampfslogan „It’s the economy, stupid“ – Es ist die Wirtschaft, Dummkopf –, besteht der einzige Weg, Staaten langfristig aus ihrer Fragilität zu befreien, darin, für Wirtschaftswachstum zu sorgen, mehr wirtschaftliche Möglichkeiten zu schaffen. In fragilen Staaten gibt es extrem, wirklich extrem wenige Betriebe, denn warum um alles in der Welt sollte ein anständiges Unternehmen dort hingehen? Aber es besteht ein riesiges öffentliches Interesse daran, dass Betriebe dort tätig werden, weshalb öffentliche Gelder gebraucht werden, um sie dazu zu bewegen, in fragile Staaten zu gehen. Keine großen Unternehmen, keine Firmen, die exportieren, einfache Betriebe, die Menschen in Gruppen von mehr als zwei Personen organisieren. Die meisten Afrikaner in fragilen Staaten arbeiten für sich, allein – ohne geregelten Lohn, ohne jegliche Spezialisierung, mit sehr niedriger Produktivität und sind zur Armut verdammt. Das Grundsätzlichste, das ein Unternehmen überall macht, ist Menschen zu organisieren, mit geregeltem Lohn und Spezialisierung. Der Einsatz, die Verwendung öffentlicher Mittel, um anständige Betriebe in dieses Umfeld zu bringen, in das sie eigentlich nicht gehen wollen, wo sie aber dringend gebraucht werden, ist die Art von Verwendung öffentlicher Gelder, die wirklich wichtig ist.
All unsere Regierungen haben Behörden oder Institutionen, die dafür zuständig sind. Das gehört zur Entwicklungszusammenarbeit oder den Entwicklungsbehörden, die sich um die Betriebe kümmert. In Deutschland ist es die DEG, die als Teil der KfW arbeitet. In der Weltbankgruppe ist es die IFC, die jetzt Gelder aus dem Topf für Entwicklungszusammenarbeit erhält. Bis zum letzten Jahr musste die IFC selbst Gewinne machen, um für öffentliche Hilfsprogramme bezahlen zu können. Das war verrückt.
Wenn man Gewinne machen muss, investiert man in China, was überhaupt nicht Sinn der Sache ist und nichts mit dem eigentlichen Zweck dieser Institutionen zu tun hat. Rund um die Welt gibt es 45 für Entwicklung zuständige Finanzinstitutionen – öffentliche Einrichtungen, die Unternehmen mit staatlichen Geldern dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Viele von ihnen haben ihren eigentlichen Zweck noch nicht verstanden. Die Instrumente sind also vorhanden. Wir müssen sie nur richtig nutzen. Das kann doch, offen gesagt, nicht so schwer sein. Es ist bloß leider so, dass diese Institutionen schon seit Jahren existieren, aber nicht richtig genutzt wurden.
Wenn wir im Vorfeld der Europawahlen im nächsten Jahr einen Europapolitiker beraten würden, welchen Policy-Mix würden wir ihm empfehlen?
Wir stecken in einer polarisierten Debatte, weil die Menschen sich über die falschen Dinge streiten. Wir könnten weitgehende Einigkeit herstellen, wenn wir nicht länger unseren Fokus darauf richten, was wir morgen tun, sondern uns damit beschäftigen, wie ein nachhaltiges System aussehen könnte.
Nur als Zusammenfassung: Ausgangspunkt der weitgehenden Einigkeit ist, dass alles, was wir tun, ethisch sein muss. Das heißt, es muss unseren Pflichten gegenüber den Flüchtlingen gerecht werden. Und das wird es, indem wir den Flüchtlingen Arbeitsplätze bringen und den Regierungen der Zufluchtsländer riesige Unterstützung leisten, damit die Grenzen dieser Länder offen bleiben. Das ist das Entscheidende. Wenn die Gesellschaften der Zufluchtsländer keinerlei Vorteile von der Situation haben, werden sie ihre Grenzen nicht offenhalten und dann hat man den gefürchteten Drucktopf von Vertriebenen, die nicht aus ihrem Land herauskommen.
Wenn man versucht, eine Politik durchzusetzen, die die Mehrheit der Menschen in dieser Gesellschaft für unverantwortlich hält, zerreißt man die betreffende Demokratie. Genau das passiert gerade.
Unsere andere ethische Pflicht ist, Möglichkeiten in Länder zu bringen, in denen sich das gefährliche Narrativ verbreitet, dass man nichts anderes tun kann als wegzugehen. Mein gesamtes Arbeitsleben von über 40 Jahren habe ich der Idee gewidmet, dass die armen Gesellschaften zu uns aufschließen müssen. Sie werden nicht aufholen können, wenn ihre klügsten und besten Leute das Land verlassen.
Ich habe zurzeit einen Studenten, der Arzt aus dem Sudan ist. Ich unterrichte ihn nicht in Medizin, sondern in Staatspolitik, denn er möchte zurück in den Sudan gehen, um dort im Büro des Ministerpräsidenten zu arbeiten. Seine Freunde – andere sudanesische Ärzte in Großbritannien – halten ihn für verrückt. Es arbeiten mehr sudanische Ärzte in London als im gesamten Sudan. Es ist ein ethischer Skandal, dass Großbritannien sudanesische Ärzte für sein Gesundheitswesen rekrutiert, statt im eigenen Land Ärzte auszubilden. Großbritannien hat drei der zehn weltbesten Universitäten. Afrika hat keine davon. Die Vorstellung, dass wir auf Ärzte angewiesen sind, die in Afrika studiert haben, ist absurd. Afrika braucht Ärzte, die in Großbritannien ausgebildet wurden. Es ist beschämend, dass in Europa eine derartige Politik betrieben wird.
Und dann müssen wir eine Politik betreiben, die auf eine breite demokratische Zustimmung trifft, bei der die Mehrheit der Menschen sagt: „Ja, das ist gut“. Wenn man versucht, eine Politik durchzusetzen, die die Mehrheit der Menschen in dieser Gesellschaft für unverantwortlich hält, zerreißt man die betreffende Demokratie. Genau das passiert gerade. Die Regierungen überall in Europa haben das Vertrauen ihrer Bürger und Bürgerinnen verloren – und zwar deutlich messbar. Das ist eine Katastrophe, denn Regierungen sind in ihrer Arbeit auf Vertrauen angewiesen – nicht nur im Bereich der Migration, sondern in allen Bereichen.
Und drittens sollten wir politische Richtlinien nur mit ausreichender Vorsicht einführen, damit wir sie am Ende nicht bedauern.
Was wäre Ihr Ausgangspunkt, um im Vorfeld der Europawahlen oder von Wahlen auf nationaler Ebene Vertrauen zurückzugewinnen?
Darüber habe ich gerade ein ganzes Buch geschrieben. Es heißt Future of Capitalism und erscheint Anfang Oktober. In dem Buch geht es darum, wie die Mitte das Vertrauen wieder herstellen kann. Ich bin als Kind in der glorreichen Zeit zwischen 1945 und 1970 aufgewachsen, als das soziale Europa aufgebaut wurde.
Der britische Nationale Gesundheitsdient NHS wurde genau vor 70 Jahren, im Juli 1948, eingerichtet, und ich kam neun Monate später in einem vom NHS betriebenen Krankenhaus zur Welt. Und dann ging ich auf eine Schule, die noch zwei Jahre vor meiner Geburt eine Privatschule war, aber dann in eine staatliche Schule umgewandelt worden war. Es war nur eine staatliche Schule, aber eine sehr gute, die ich 19 Jahre lang besuchte. Meine Eltern hatten beide im Alter von 12 Jahren die Schule verlassen. Ohne diese Schule wäre ich wohl wie mein Vater ein armer Metzger geworden.
Dann ging ich nach Oxford. Ich musste keine Studiengebühren zahlen, weil es zu der Zeit für arme Kinder Stipendien gab. Heute gibt es die nicht mehr. Anschließend absolvierte ich ein Promotionsstudium und erhielt in Oxford die Doktorwürde. Auch das war kostenfrei, weil damals Gelder für diejenigen zur Verfügung standen, die arm genug waren.
Diese Zeit prägte mich. Was war das Besondere an dieser Zeit? Die Menschen entwickelten wechselseitige, auf Gegenseitigkeit beruhende Verpflichtungen rund um reale Ängste. Ich glaube, es war die Genossenschaftsbewegung, die im Norden Englands entstand, wo ich aufwuchs. Rochdale mit der Baugenossenschaft Halifax Building Society und all die anderen Städte im Umkreis. Sheffield war die erste Stadt in ganz Großbritannien mit einem Labour-Stadtrat.
Das war die Zeit, als diese gegenseitigen Verpflichtungen sich um die kleinen Leute und ihre Sorgen kümmerten. Das Geniale an diesen gegenseitigen Verpflichtungen ist, dass alle Rechte, die geschaffen werden, genau von diesen Verpflichtungen erfüllt werden, die man entwickelt.
Ab den 80er-Jahren wurde dann all das abgebaut, teils aufgrund der Idiotie der Rechten – durch ihre bescheuerte an Milton Friedman angelehnte Politik: Was gut für die Wirtschaft ist, ist auch gut für jeden Einzelnen – und teils aufgrund der Dummheit der neuen Linken, die Idee der wechselseitigen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Verpflichtungen aufzugeben, und zwar zugunsten individueller Rechte, und der Rechte von Opfergruppen und ähnlichem sowie einem sozialen Paternalismus.
Meiner Ansicht haben wir in den letzten 40 Jahren die tragische Zerstörung der wahren Fundamente einer sozialen Demokratie erlebt. Und genau dagegen rebellieren die Menschen heute. Wir können uns keine Polarisierung leisten, weil wir, heute mehr als je zuvor, einen Sinn für Solidarität brauchen. Die Menschen, die am meisten leiden, müssen auf dieses soziale Kapital – ein akkumuliertes soziales Kapital – aus gegenseitiger Achtung zurückgreifen können.
Sir Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Public Policy an der Blavatnik School of Government der Universität Oxford. Sein neuestes Buch ist „Exodus: Immigration and Multiculturalism in the 21st Century“ von Penguin und Oxford University Press.