Der Drang nach Freiheit

Schottland steht vor einer Schicksalswahl: Sie könnte der Unabhängigkeitsbewegung neuen Schwung geben – und den Weg für einen EU-Beitritt bereiten.

Die schottische Politik steht momentan vor der Frage, ob Schottland Teil des Vereinigten Königreichs bleiben oder ein unabhängiger Staat werden soll. Auch wenn diese Frage auf unterschiedliche Weise wohl schon seit Beginn der Union mit England im 18. Jahrhundert

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gestellt wird, hat sie in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Tatsächlich ist der schottischen Parlamentswahl am 6. Mai bereits ein Jahrzehnt intensiver Diskussion über die Unabhängigkeit vorausgegangen. So wird diese Wahl auch den Streit um ein mögliches neues Unabhängigkeitsreferendum auf eine neue Ebene bringen.

Bereits bei der schottischen Parlamentswahl von 2011 konnte die Schottische Nationalpartei (SNP) eine Mehrheit erzielen – und zwar die erste und bis jetzt einzige absolute Mehrheit überhaupt. Die SNP, Schottlands größte Partei, die für die Unabhängigkeit eintritt, hatte versprochen, das Volk zu diesem Thema abstimmen zu lassen. Daraufhin trafen die schottische und die britische Regierung 2012 eine bilaterale Vereinbarung, um eine solche Abstimmung zu ermöglichen. 2014 wurde dann das Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt, und bekanntlich entschied sich die schottische Bevölkerung dafür, weiterhin im Königreich zu bleiben.

Aber damit war die Diskussion nicht beendet. Was auch immer geschehen war, die Gespräche über die Unabhängigkeit gingen weiter. Allerdings wurde die schottische Politik durch das britische EU-Referendum im Jahr 2016 grundlegend verändert: Schottland hat nicht für den Brexit gestimmt. Dies dürften alle Europäer heute wissen, da es zwischenzeitlich die einzige europapolitische Botschaft der schottischen Regierung war. Die Themen Europa und Unabhängigkeit wurden unauflöslich miteinander verschmolzen. Und seit 2020 wird die schottische Unabhängigkeit öffentlich immer stärker unterstützt – mit wechselnden Mehrheiten unter den jeweiligen Wählergruppen. Die stärkste Antriebskraft dahinter war der Brexit.

Ein Jahrzehnt nach 2011 stehen die schottischen Wähler nun vor einer weiteren Wahl, in der die Frage nach der Unabhängigkeit das zentrale Thema ist. Die SNP und die schottischen Grünen schlagen vor, in der nächsten parlamentarischen Amtszeit von 2021 bis 2026 ein neues Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Gegen eine solche Volksabstimmung wenden sich die schottischen Konservativen, die Labour Party und die Liberaldemokraten. Laut Meinungsumfragen der letzten Monate dürfte die SNP die Wahl eindeutig gewinnen. Entscheidend ist aber, wie stark der Sieg ausfällt und welche Auswirkungen die Wahl auf die Diskussion über ein neues Referendum hat.

Die Themen Europa und Unabhängigkeit wurden unauflöslich miteinander verschmolzen.

Nach der britischen Entscheidung, die EU zu verlassen, brachte die schottische Regierung, die seit 2007 dauerhaft von der SNP gebildet wird, die Möglichkeit eines neuen Unabhängigkeitsreferendums ins Spiel. Nicola Sturgeon, die Chefin der Nationalregierung, erklärte in ihrer ersten Rede nach der Brexit-Volksabstimmung, ein Schottland-Referendum liege „auf dem Tisch“. Ihre Aussage mündete in ein Versprechen, diese Abstimmung bis Ende 2023 durchzuführen. Momentan ist dieser Plan allerdings auf zwei verschiedenen Ebenen umstritten:

Die erste dieser Ebenen ist die britische Regierung. Bereits zweimal hat Nicola Sturgeon erfolglos versucht, die jeweils amtierenden britischen Premierminister dazu zu bewegen, einem neuen Referendum zuzustimmen – im März 2017 Theresa May und im Dezember 2019 Boris Johnson. In beiden Fällen gab es zwischen den zwei Regierungen keinerlei Verhandlungen. Ende 2019 beantragte Sturgeon bei Johnson, einen Dialog über das Thema zu führen, was dieser Anfang 2020 schriftlich ablehnte. Praktisch gesehen bleibt es damit bei einer Pattsituation.

Die zweite Ebene ist das schottische Parlament. Dort bilden die SNP und die schottischen Grünen momentan eine „Mehrheit für die Unabhängigkeit“. Obwohl diese Parteien keine Koalition eingegangen sind, unterstützen beide die Unabhängigkeit und ein entsprechendes Referendum. Das Gesetz zur ersten Volksabstimmung von 2014 wurde damals im Parlament aber nicht auf Mehrheits- oder Parteienbasis verabschiedet, sondern einstimmig. Im Gegensatz dazu besteht heute – ohne die Unterstützung der schottischen Konservativen, der Labour Party und der Liberaldemokraten – keine derart parteiübergreifende Einigkeit.

Kürzlich hat der ehemalige Chef der Nationalregierung und SNP-Parteichef Alex Salmond dem politischen Umfeld vor der Wahl eine neue Dimension hinzugefügt: Nachdem es eine lange Auseinandersetzung über sein Verhalten im Amt gegeben hatte und seine Freundschaft zu Sturgeon vollständig zerrüttet war, übernahm er die Führung der neuen Alba-Partei (Alba bedeutet auf Gälisch „Schottland“). Bemerkenswerterweise schlägt seine Partei vor, sofortige Unabhängigkeitsverhandlungen mit der britischen Regierung zu führen, und dann vielleicht irgendwann ein Referendum abzuhalten, aber nicht als ersten Schritt.

Bereits zweimal hat Nicola Sturgeon erfolglos versucht, die jeweils amtierenden britischen Premierminister dazu zu bewegen, einem neuen Referendum zuzustimmen.

Ein solcher Ansatz hat keinerlei Aussicht auf Erfolg, aber mit ihm wendet sich die Alba-Partei an jene, denen die Fortschritte bei der Unabhängigkeit nicht schnell genug gehen. Selbst wenn Salmonds Partei bei dieser Wahl keine Sitze gewinnen sollte, besteht zweifellos die Gefahr, dass das Lager der Befürworter der Unabhängigkeit auseinander bricht. Wie sich diese Spaltung entwickelt und auswirkt, bleibt abzuwarten.

Angesichts der maßgeblichen Stellung der SNP in der schottischen Politik wird ihr Wahlergebnis im Mai die Aussichten auf ein zukünftiges Unabhängigkeitsreferendum entscheidend prägen. Das erklärte Ziel der SNP besteht darin, eine absolute parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Die Umfragen sind sich einig, dass sie zur stärksten Partei wird, aber ob sie auch die absolute Mehrheit erzielen kann, ist noch unklar. Diese Unsicherheit liegt größtenteils daran, dass die schottische Parlamentswahl einem personalisierten Verhältniswahlrecht unterliegt. Obwohl erwartet wird, dass die SNP die meisten der Mehrheitswahlbezirke gewinnt, hat sich die Sitzverteilung für die regionalen Listen – die eine Mehrheit der SNP sichern oder verhindern könnte – als schwer prognostizierbar erwiesen.

Angesichts der aktuellen Lage scheinen vier Szenarien möglich: Erstens könnte die SNP eine absolute Mehrheit erlangen und allein regieren. Zweitens könnte sie mit relativer Mehrheit – und wechselnder Unterstützung der Grünen zur Unabhängigkeit und zu anderen Themen – allein regieren. Drittens könnte sie eine relative Mehrheit erreichen und gemeinsam mit den Grünen eine Mehrheitskoalition bilden. Und viertens könnte sie allein die absolute Mehrheit erlangen und trotzdem mit den Grünen koalieren, um diese Mehrheit noch zu stärken.

Obwohl die SNP und die Grünen in einigen Bereichen unterschiedliche Ansichten haben, blicken sie – beispielsweise zu Haushaltsthemen – auf eine lange Tradition informeller Zusammenarbeit zurück. Mit ziemlicher Sicherheit aber würde die SNP nicht mit der Alba-Partei zusammenarbeiten, selbst wenn diese genug Wählerstimmen bekäme, um ins Parlament einzuziehen.

Die britische Regierung könnte entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihren schottischen Amtskollegen eine bilaterale Vereinbarung über ein Referendum trifft.

Wie sich Parlament und Regierung nach der Wahl zusammensetzen, könnte die Frage beantworten, ob der Konflikt um ein Referendum auf der britischen und schottischen Ebene gelöst werden kann. Die britische Regierung könnte entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihren schottischen Amtskollegen eine bilaterale Vereinbarung über ein Referendum trifft. Dann ständen die anderen Parteien im schottischen Parlament vor der Wahl, ob sie derartige Bemühungen unterstützen wollen. Entscheidend wird sein, wie weit die Parlamentarier aufgrund der Wahlergebnisse ihre Position verändern, anstatt bei ihren bisherigen Überzeugungen zu bleiben.

Diese Unsicherheit über die Auswirkungen der schottischen Wahl auf ein Unabhängigkeitsreferendum liegt daran, dass die Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs ziemlich verworren ist: Vordergründig hat das britische Parlament – gemäß der englischen Doktrin der parlamentarischen Souveränität – in Schottland die oberste Entscheidungsmacht. In der Praxis ist das schottische Parlament allerdings politisch legitimiert, seine Bürger zu repräsentieren, was der schottischen Tradition der Volkssouveränität entspricht. So sind hauptsächlich diese unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Ideologien dafür verantwortlich, dass sich Unstimmigkeiten nicht leicht lösen lassen.

Am besten wird dies durch die Tatsache verdeutlicht, dass bis heute kein Konsens über den Grund besteht, warum das Unabhängigkeitsreferendum von 2014 eigentlich stattgefunden hat. Laut der ersten Logik wurde das Referendum im Hinblick auf die schottischen Wahlen von 2011 von der britischen Regierung erlaubt, und zwar in ihrem freien Ermessen, die Wünsche des schottischen Volkes zu berücksichtigen. Laut der anderen Logik haben die schottische und die britische Regierung lediglich die Wahlentscheidung der Menschen für ein Referendum umgesetzt, das dann laut Wählerauftrag definitionsgemäß wiederholbar wäre.

Die schottische Wahl im Mai wird zeigen, was die Bevölkerung von einem neuen Referendum hält. Die politische Antwort auf dieses Votum wird letztlich aber davon abhängen, welche der konkurrierenden Ansichten über Demokratie und Souveränität sich in Schottland und im Vereinigten Königreich durchsetzen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff.

Anthony Salamone FRSA ist Geschäftsführer von European Merchants, einer schottischen politischen Analysefirma in Edinburgh. Er ist Politikwissenschaftler und Mitglied des Edinburgh Europa Institute.

 

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