Das schützende Europa

Deutsche Interessen oder europäische Solidarität? Warum wir die drängenden Probleme des Kontinents nur im Verbund lösen können.

Von Migration über eine effektive Verteidigung bis hin zur Zähmung des Finanzkapitalismus – die großen Themen können nur im Verbund gelöst werden. ©seppspiegl

Die Bundestagswahl in diesem Jahr bietet die besondere Chance, das Thema Europa in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen. Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt eine erprobte Krisenmanagerin ab, die es aber versäumt hat, Europa voranzubringen. Ihr Handeln bestimmte das Motto: So viel deutsche Interessen wie möglich, so viel Europa wie nötig. Das reicht aber schon lange nicht mehr aus. Angesichts der inneren Krisen der EU und der globalen Herausforderungen sollte die Schaffung eines handlungsfähigen Europas ein wichtiges Wahlkampfthema werden.

Dafür sprechen mehrere Gründe: erstens die Lehren aus über einem Jahrzehnt Krisen zu ziehen. Zweitens den sich nicht zum Guten verändernden globalen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Drittens an die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr anknüpfend erneut den Versuch wagen, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Viertens das die Gerechtigkeitsgefühle vieler Menschen verletzende Verhalten internationaler Konzern unter – zumindest europäische – Kontrolle zu bekommen. Und schließlich fünftens die viele Menschen ängstigenden Themen Migration und radikaler Islam entschlossen anzugehen.

Es gibt natürlich noch weitere Themen, zu denen der Klimawandel gehört, der aber ein globales Thema ist, bei dem die Europäer freilich eine gewichtige Rolle spielen (sollten). Die genannten fünf Themen scheinen den meisten Meinungsumfragen zufolge die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger zu beunruhigen, weshalb sie ins Zentrum einer europapolitischen Wahlkampfagenda gehören.

Welche Lehren sollten aus dem zurückliegenden Krisenjahrzehnt gezogen werden, beginnend mit der Finanzkrise 2008/09, der darauffolgenden Flüchtlingskrise 2015 und schließlich der Corona-Krise ab 2020? Die rechten und linken Populisten ziehen daraus den Schluss, nur der Nationalstaat könne die Menschen in solchen Krisensituationen schützen. Bis zu einem gewissen Grad haben sie sogar Recht, was teilweise auch ihre Wahlerfolge erklärt. Denn die EU hat sich in allen Fällen nur zögerlich und nach heftigem Streit auf Kompromisse der Krisenbekämpfung geeinigt, was vielfach einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hat, etwa in Italien, wo die Europaskepsis stark gewachsen ist.

Die Lehre aus dem Krisenjahrzehnt für eine europapolitische Kampagne muss deshalb sein, dass eine starke und handlungsfähige EU her muss.

Das lag aber meist weniger an Brüssel als an den Mitgliedstaaten, wie sich am Gefeilsche um das Corona-Hilfspaket zeigte. Die Lehre aus dem Krisenjahrzehnt für eine europapolitische Kampagne muss deshalb sein, dass eine starke und handlungsfähige EU her muss. Dabei sollte man notfalls mit einigen anderen Staaten entschlossen vorangehen und sich nicht mehr von einigen Blockierern aufhalten lassen. Dazu lässt sich das im Lissabon-Vertrag festgeschriebene Instrument der ständigen strukturierten Zusammenarbeit nutzen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat bereits verschiedene Vorschläge in diese Richtung gemacht, die jedoch bei Kanzlerin Angela Merkel bis dato überwiegend auf taube Ohren stießen. Hier könnte vor allem die Sozialdemokratie ein klares Signal aussenden und als langfristiges Ziel ein Kerneuropa als Alleinstellungsmerkmal aufgreifen – spätestens wenn klar wird, dass es auch nach dem Brexit mit 27 Staaten nicht vorangeht.

Dies wäre vor allem auch deshalb wichtig, weil die globalen Verhältnisse sich seit Langem nicht zum Guten entwickeln. Nicht erst seit Donald Trumps „America first“-Ansatz ist eine Rückkehr zu alter Machtpolitik in den internationalen Beziehungen zu beobachten; auch China, Russland und regionale Mächte wie die Türkei und Iran versuchen zunehmend hemmungslos, Einflusssphären zu schaffen, wenn nötig auch mit Waffengewalt. Dem hat die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand wenig entgegenzusetzen, auch weil sie auf dem Weg der verstärkten Zusammenarbeit auf verteidigungs- und rüstungspolitischem Gebiet nicht weit genug gekommen ist.

Dabei könnte man die unsinnige Spirale weiterer Aufrüstung mit dem ominösen Zwei-Prozent-Ziel vermeiden, wenn man die vorhandenen Verteidigungs- und Rüstungskapazitäten endlich bündeln und teilen (pooling and sharing) würde. Die EU-Mitgliedstaaten gaben 2019 über 300 Milliarden US-Dollar für Militär aus; zählt man Großbritannien mit knapp 50 Milliarden dazu, dann ist dies fast die Hälfte des US-Budgets. Allerdings erreicht man wegen der Zersplitterung in 28 Armeen und ca. 180 verschiedene Waffensysteme lediglich 15 Prozent der amerikanischen Schlagkraft.

Nicht erst seit Donald Trumps „America first“-Politik ist eine Rückkehr zu alter Machtpolitik in den internationalen Beziehungen zu beobachten.

Die verstärkte Zusammenarbeit auf diesem Gebiet sollte deshalb ganz oben auf der europapolitischen (Wahlkampf-)Agenda stehen, denn die EU wird „ihre Werte, ihren multilateralen Ansatz in den internationalen Beziehungen nur bewahren können, wenn sie selbst genügend Gewicht aufbringt“, so Kanzlerkandidat Olaf Scholz in einer Rede an der Humboldt-Universität.

In diesem Kontext wäre auch eine Rückbesinnung auf die Ost- und Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr angebracht. Dazu gehört in erster Linie der Versuch einer Verständigung mit Russland, das zwar eine gefürchtete Militärmacht, aber mit 65,4 Milliarden US-Dollar Militärausgaben im Vergleich zu den USA ein Zwerg ist (Chinas Militärbudget beträgt 261 Milliarden US-Dollar). Auf Dauer kann sich Russland mit einem Bruttosozialprodukt von der Größe Spaniens größere militärische Abenteuer nicht mehr leisten.

Aber auch für uns wäre eine Verbesserung in den Beziehungen hilfreich. „Europa kann die zunehmende Entfremdung Russlands nicht akzeptieren“, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2020 ausführte. Statt Furcht vor Moskau zu schüren, sollte man auf die Prinzipien der Charta von Paris vom November 1990 zurückgreifen mit dem Ziel einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, vor allem auch, um die bestehenden Abrüstungsverträge zu retten und neue zu initiieren.

Die Einigung zwischen Moskau und Washington, den New-Start-Vertrag über die Begrenzung der Massenvernichtungswaffen zu verlängern, ist ein gutes Zeichen. Frieden, Abrüstung und Verständigung mit Russland sind dem Bürger sicherlich eher zu vermitteln als vermehrte Rüstungsausgaben und Konfrontation. Das heißt nicht, naiv zu sein und Gewaltanwendung nicht klar zu verurteilen. Und es schließt auch ein, die Interessen der östlichen EU-Länder, allen voran Polens, so weit wie möglich zu berücksichtigen.

Die Steuerung von Migration und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus können wirkungsvoll nur im europäischen Rahmen geschehen.

Ein weiteres Thema ist die Zähmung des hemmungslosen und kurzfristig operierenden Finanzkapitalismus zentriert in der Wall Street und London City, der seit 1990 die Weltwirtschaft dominiert und dessen dreistes Gebaren die meisten Bürgerinnen und Bürger empört. Im Sinne der Gerechtigkeit sollte den Bürgern wenigstens eine europäische Perspektive der Kontrolle und Besteuerung internationaler Konzerne geboten werden, wenn dies schon auf globaler Ebene etwa im Rahmen der OECD nicht möglich ist (und auf nationaler Ebene verpuffen würde).

Die verheerenden Auswirkungen des Finanzkapitalismus und entsprechende Vorschläge zu seiner Einhegung werden im letzten Bericht an den Club of Rome von den Autoren Ernst Ulrich von Weizsäcker und Anders Wijkman treffend beschrieben. Zu den Vorschlägen gehören die Einführung einer Finanztransaktionssteuer, wie sie Frankreich unter Macron schon eingeführt hat, und die Bekämpfung und Austrocknung von Steueroasen, die weltweit zu einem Steuerausfall von 427 Milliarden US-Dollar jährlich führen. Da einige EU-Mitgliedstaaten selbst Steueroasen beherbergen, sollte auch hier der Mechanismus der verstärkten Zusammenarbeit greifen und eine Gruppe von Ländern vorangehen, was dem Bürger das Gefühl der völligen Ohnmacht gegenüber solchem Gebaren wenigstens teilweise nehmen könnte und ihn damit weniger anfällig für Populismus und Politikverdrossenheit machen würde.

In einer europapolitischen (Wahlkampf-)Strategie dürfen die Themen Migration und radikaler Islam nicht fehlen, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Beides hängt zusammen, denn die überwiegende Zahl der nach Europa kommenden Migrantinnen und Migranten sind Muslime – und dies wird aufgrund der hohen Bevölkerungszunahme im Nahen Osten, in Nord- und Subsahara-Afrika auch in Zukunft so bleiben. Und beides sind, vor allem für die Linke, sensible Themen, deren Ausklammerung freilich Wasser auf die Mühlen rechter Populisten bedeuten würde.

Auch hier hat Olaf Scholz einen wichtigen Hinweis gegeben: „Die Sicherung der Grenzen ist entscheidend für das Sicherheitsempfinden unserer Bürgerinnen und Bürger – und für die Akzeptanz von Migration.“ Was den radikalen Islam anbelangt, so hat Kevin Kühnert jüngst die Linke gemahnt, „sich endlich gründlich mit dieser Ideologie als ihrem wohl blindesten Fleck zu beschäftigen“. Beides – die Steuerung von Migration und die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus – kann wirkungsvoll nur im europäischen Rahmen geschehen.

Die meisten Bürger wünschen sich in allen hier genannten Bereichen eine stärkere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. „Ein Europa, das schützt“, müsste deshalb im Fokus eines europazentrierten Wahlkampfes stehen.

 

Dr. Winfried Veit ist Politikwissenschaftler und Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Freiburg. Er war bis 2011 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Referatsleiter für Osteuropa und Zentralasien sowie Leiter der Büros in Südafrika, Israel, Paris und Genf. Zuletzt ist sein neues Buch „Europas Kern – Eine Strategie für die EU von morgen“ erschienen.

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