Das mickrige, hässliche Männchen
von Elisabeth Sofia Schlief
„Komm, wir setzen uns drüben an den Tisch.“ Klara, eine der beiden älteren Damen seufzt. „Hier in dem Café haben wir früher so oft gesessen.“
„Ja, das gute, alte ‚ Café Müller-Langhardt ‚ am Bonner Markt.“ Antwortet Hedwig, ihre im elegantem beige- braun gekleidete, Begleiterin, während sie sich vorsichtig hinsetzt. „Wie lange ist das jetzt her? Ach, ich will die Jahre gar nicht zählen.“
„Dann lass uns die Jahrzehnte zählen. Die Zahl ist nicht so hoch,“ lacht Klara.
“ Du bist immer noch die alte Ulknudel wie vor, naja, lass uns sagen drei Jahrzehnten“.
Immer zu einem Spaß aufgelegt. “ Ach“, seufzt Hedwig und prüft ihr Gesicht in einem kleinen Spiegel. „Ich bin doch froh, dass ich mich entschlossen hatte, dich zu kontaktieren, ehe ich mich von Wien her in Richtung alte Heimat gemacht habe.“
„Ein Onkel von Dir lebt noch hier nicht war, Hedwig? Lieber Himmel, der muss ja inzwischen uralt sein.“
„Ja, stimmt, der gute Onkel Karl. Vierundneunzig und immer noch gut drauf. Sieht auch gar nicht danach aus.“ Hedwig streicht sich betont vorsichtig übers Haar. „Habe wohl auch diese Gene. Mütterlicherseits, weißt du.“
„Ja, das muss man sagen, du siehst wirklich nicht wie….. “
„Psst, muss doch nicht jeder hören!“
Hedwig wechselt hastig das Thema, ehe Klara die Zahl aussprechen kann. „Schön, hier zu sein, wenn auch…. “ Sie sieht sich mit hochgezogen Augenbrauen im Café um.
„Ich finde es jedenfalls toll, dass du hier bist,“ erwidert Klara leise. „Um diese Jahreszeit bin ich immer froh, nicht alleine zu sein. Und nun sitzen ausgerechnet wir beide in unserem alten Café und lassen es uns gut gehen. Und welch ein Glück, dass ich noch Karten für die Beethovenhalle ergattern konnte. Das Sonderkonzert. Aber, das habe ich dir ja alles schon am Telefon gesagt. Hedwig! Wo schaust du denn die ganze Zeit hin?“
„Wo ich hinschaue? Das siehst du doch. Guck mal, da drüben. Was will das seltsame Kerlchen dort denn? Warum sieht der denn die ganze Zeit hier rüber? Na ja, mehr zu dir.“, säuselt sie und blickt ihr Gegenüber, unter gesenkten Lidern, spöttisch an.
Aber Klara reagiert nicht auf die Spöttelei, sie sieht nun auch in Richtung des anderen Tisches. “ Wen meinst du? Wo? Da? Oh nein! ich glaube es nicht! Das ist doch der…… “
„Siehst du wie der dich anschaut ?“, wird sie von Hedwig in zischendem Flüstern unterbrochen? „Er schaut nur zu dir rüber, merkst du das denn nicht?“
„Der Mann schaut nicht nur zu mir rüber. Er schaut einfach in die Gegend. Und zufällig in unsere Richtung. Und jetzt hör doch endlich einmal auf, immer im Mittelpunkt stehen zu wollen. Und wenn er nur zu mir schauen würde. Warum soll mich denn nicht auch einmal jemand ansehen? Aber du kannst es nicht lassen, nicht wahr? Wenn dich wer interessiert, schaut er zu dir, wenn nicht, naja, ist egal. Und der Mann da drüben ist übrigens, glaube ich..“
Wieder wird sie unterbrochen.
„Aber ich habe dich doch nur auf das komische Männchen aufmerksam machen wollen. Sieh ihn dir doch nur einmal genau an. Dünn und schmächtig; und dazu auch noch potthässlich.“
„Von wegen dünn, schmächtig und potthässlich! Das ist, ich glaube jedenfalls, dass das …..“
“ Also, hör mal, nein so was!“, unterbricht Hedwig sie erneut. „Also wenn der dich weiter so aufdringlich anstarrt, dieses hässliche, mickrige Kerlchen, werde ich….“
„Was wirst du? Du wirst jede Einmischung schön bleiben lassen. Da kann man wieder mal sehen! Bei dir dreht sich wirklich alles nur um dich und Äußerlichkeiten. Du kannst es einfach nicht haben, dass mal jemand zu mir, anstatt zu dir sieht. Aber du warst ja schon in der Schule so eine missgünstige überkandidelte Zicke. Für mich ist der Mann da drüben jedenfalls eher schlank und von genau der richtigen Größe für…… “
„Für deine Größe. Ja, Ihr würdet so richtig gut zueinander passen. Ein Zwergenpaar, ha, ha, ha. Und ich eine arrogante Zicke in der Schule? Ich habe mich eben gerne gut angezogen, bin nicht jeden Tag in im selben Rock rumgelaufen, wie….. “
„Wie wer? Fängst du schon wieder damit an? Es gab eben Mitschülerinnen, die kamen nicht vom Kohlenhändler Meisen. Kohle zu Kohle, nicht wahr? Das haben wir jedenfalls oft ge…….“
Hedwig will aufspringen, kann ihren Stock, der heruntergefallen war, nicht greifen, ihr dramatischer Auftritt verpufft noch ehe sie sich wieder aufrichten kann.
„Das ist richtig gemein von dir! Wo ich doch nur….“
„Ist ja schon gut. Hedwig. Lass die Tränchen drinnen. Das konntest du ja auch immer schon sehr gut. Jetzt komm, hör schon auf! Du verwischst dir ja dein Mascara. Ich hab’s nicht so gemeint. Komm, wir sollten uns doch schöne Erinnerungen erzählen und nicht nur alte, fiese Geschichten ausgraben. Wo wir uns doch nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder getroffen haben. Und dann gehen wir auch noch in ein Konzert. Ja, ja, so kann es gehen“. Sie seufzt leise, legt eine Hand auf Hedwigs Arm.
„Nun komm Hedwig, trinken wir noch ein Gläschen Prosecco auf unser Wiedersehen. Ist schon komisch. Erst, sehen wir uns Jahrzehnte nicht, und jetzt sitzen wir hier in unserem alten Café und freuen uns auf einen Besuch in der Beethovenhalle. Was meinst du, wir könnten doch nach dem Konzert…..?“
Hedwig, die inzwischen wieder fest auf ihrem Stuhl sitzt, betupft vorsichtig ihre Augen und nickt gnädig. Doch dann unterbricht sie ihre Tätigkeit mit einem leisen Aufschrei.
„Guck mal Klara! Jetzt guck doch mal ! Ich fasse es nicht! Was macht eine so gut angezogene junge Frau, die auch noch ein Stück größer ist wie das Kerlchen, und blendend, also das muss man ihr lassen, wirklich blendend aussieht, bei dem Männchen? Ich glaub‘ es nicht! Nun sag doch was, Karla! Und auch noch teuer angezogen ist die. Glaub mir, da habe ich ein Auge für.“
Mit einer dramatischen Geste fasst Hedwig sich an ihren, noch immer voluminösen Busen – und stößt dabei die beiden, inzwischen neu gefüllten, Gläser Prosecco um.
„Hedwig! Jetzt pass doch auf! Mein Gott, jetzt hast mir den ganzen Prosecco über den Rock geschüttet! Wie soll ich so nachher ins Konzert gehen? Du doofes Huhn aber auch. Mensch, jetzt sieh mal hier, alles nass! Und, dass du es weißt, ich finde den Mann da drüben überhaupt nicht hässlich. Der hat doch ein richtig interessantes Gesicht. Und ich wollte dir vorhin noch was sagen. Aber du mit Deinem Gerede über Mode und Kleider… Sieh mich mal an! Was soll ich denn nun machen? In dem Rock, kann ich doch nicht…Und der Mann dort drüben ist übrigens, glaube ich wenigstens, dass das der…“
„Ach jetzt komm schon, Klara,“ wird sie erneut unterbrochen.“Hab dich nicht so! Wir haben doch noch jede Menge Zeit bis zum Konzert. Weißt du was? In der Brüdergasse um die Ecke, ist doch das tolle Bekleidungsgeschäft. Das gibt es doch noch, oder? Da war ich früher oft. Schicke Sachen hatten die. Und so elegant. Aber du kennst es wohl nicht. Ein bisschen zu, naja, du weißt schon….“ Sie bricht ab, redet dann schnell weiter. „Jedenfalls, da können wir noch schnell hin und kaufen dir da einen neuen Rock. Die haben bestimmt was. Sogar in deiner Größe…wie war das, Größe achtundvierzig, nicht wahr? Oder war es…“ Sie blickt mit einem kleinen boshaftem Lächeln an Klara herunter. „Ja, ja, warst ja schon immer ein wenig üppig. Ha, ha, ha! Aber jeder wie er es mag. Jetzt, komm, wir finden schon was.“
***
„Puh, gerade noch geschafft. Hier, halt mal meine Tasche. Mein Gott, hier hat sich aber auch gar nichts verändert, Klara. Ich fass‘ es nicht. Beethovens Geburtsstadt und kein anständiges Festspielhaus. Da solltest du mal nach Salzburg kommen, die tun was für ihren Mozart. Da…“
„Jetzt sei doch wenigstens hier einmal ruhig, Hedwig! Es geht gleich los. Ich freue mich so auf das Konzert. Lass deine Miesmacherei und überhaupt, lass es doch einmal sein!“
„Ja, ja, ist ja schon gut. Jetzt hab dich doch nicht so. Was gibt es denn eigentlich? Mist, kein Programm. Ich habe meines wohl an der Garderobe liegen lassen. Oder? Ach nein, wir haben ja nur eines. Typisch, Du wolltest ja nur ein Programm kaufen…. “
„Du weißt aber auch gar nichts Hedwig! Warum gehst du denn überhaupt mit in das Konzert? Ach lass, ich weiß es auch so . Also, wir werden vier Klaviersonaten hören. Gespielt von dem derzeit besten Pianisten und Beethoven Interpreten. Da, da! Da kommt er. Und wie toll er aussieht im Frack.“
„Im Frack? Wo? Was? Der? Ich fass es nicht! Ich sehe wohl nicht recht. Der? Der ist der Künstler? Dieses mickrige, hässliche Männchen aus dem Café? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“
„Du hast mich ja nicht zu Wort kommen lassen.“
Elisabeth Sofia Schlief, geb. in Bonn. Nach 30 Jahren in München in der Krankenpflege tätig und nach Cambridge Proficiency Exam, Englisch unterrichten, wieder wohnhaft in Bonn. Veröffentlichungen: Radio, Anthologien, Monatsblättern „Lyrik in Köln“, CDs, zahlreiche Lesungen. Ihr Lyrikband „Es waren Elstern“ ist im Mai 2015 erschienen. Zur Zeit Arbeit an weiteren Kurzgeschichten und Lyrik.