Auswanderung aus Kaufungen im 19. Jahrhundert
Aus dem Tagebuch eines nordhessischen Emigranten nach Amerika
von Dr. Aide Rehbaum
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Barbara Orth legt das Tagebuch eines Auswanderers, August Brethauer, vor, das dieser für seine Familie Anfang des 20. Jahrhunderts verfasst hat. Das ursprüngliche deutsche Original wurde von der jüngsten Tochter Brethauers übersetzt, mehrfach abgeschrieben, von der Enkelin sprachlich geglättet und schließlich rückübersetzt. Zur Kenntnis gelangten die Aufzeichnungen, als Mitglieder der Familie 2018 die nordhessische Gemeinde Kaufungen im Kreis Kassel besuchten, um die Heimat ihrer Vorfahren kennen zu lernen.
Das Tagebuch zeigt zum einen die Anfangsschwierigkeiten der Auswanderer in Baltimore, den Umzug nach Belleville (Illinois), die Flexibilität im Gelderwerb der kleinen Handwerker und die Kontaktpflege der Zugewanderten untereinander in der neuen Umgebung. Den größeren Raum nimmt die Schilderung zweier Reisen 1875 und 1912 in den Geburtsort ein. Der Schreiber des Tagebuchs war drei Jahre alt, der Vater war Pflasterer, als die Familie 1854 in einer Gruppe von acht Familien nach Verkauf ihres Häuschens aufbrach. Vom ersten Besuch 1875 in Europa brachte sich August seine zukünftige Ehefrau, eine Cousine, nach Amerika mit. Der distanzierte Blick des Besuchers aus dem gelobten Land vergleicht Preise und Komfort zwischen hüben und drüben, bringt Nachrichten von Hinz und Kunz den „Zurückgebliebenen“ und sammelt seinerseits solche für die weggezogenen Verwandten.
Der Kontakt mit den Amerikanern motivierte die Historikerin Orth, gezielt zum Thema Migration die Akten durchzuforsten. Unverhofft kam dabei zutage, dass fast 500 Personen aus Kaufungen namentlich nachweisbar zwischen 1830 und 1890 nach Übersee emigrierten. Die Autorin untersucht die allgemeine wirtschaftliche Situation in Kurhessen im 19. Jahrhundert, beleuchtet detailliert die Motive zur Auswanderung und schildert die Organisation, indem sie zeitgenössische Auswandererratgeber auswertete. Eindrücklich versetzt sich die Autorin in die Situation der Abschied Nehmenden bis hin zu Liedern, die zu dem Anlass rezipiert wurden. Die Formalitäten in Bremerhaven sind zusammengetragen, ebenso Berichte über die Ankunft in der Neuen Welt. Wie in anderen Orten zogen zuerst Ausgewanderte andere nach sich und erleichterten den Neuankömmlingen das Fußfassen.
Besonders interessant ist das Tagebuch, weil es sich direkt mit dem Leben der kleinen Leute befasst, die eher selten über sich berichten, auch wenn sie es zu „respectability“ gebracht haben. Dieser Glücksfall hängt wohl damit zusammen, dass der Schreiber für mehrere Zeitungen gearbeitet hatte.

Kaufungen – Kaum etwas zu essen, Wohnen auf engstem Raum und eine stetig wachsende Bevölkerung: So beschreibt die Kaufungerin Barbara Orth die Lebensumstände vieler in der Lossetal-Gemeinde im 19. Jahrhundert. „Deswegen haben auch Kaufunger alles zurückgelassen und sind in die Vereinigten Staaten übergesiedelt, um dort ein neues Leben zu beginnen“, sagt die 66-Jährige. Einige dieser Schicksale beschreibt die Historikerin in ihrem Buch „Auswanderung aus Kaufungen im 19. Jahrhundert“
kassel university press, ISBN: 978-3-7376-5096-0, 2019, 227 Seiten
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