Autor Gisbert Kuhn

Vier Wochen nach der Bundestagswahl haben wir zwar noch keine neue Regierung, wohl aber ein neues Parlament. Es ist ein Bundestag der Superlative. Man könnte sogar ohne Übertreibung sagen: Wir Deutschen sind hier führend in der Welt. Jedenfalls wenn man die Einwohnerzahl als Bemessungsgrenze nimmt. Nur im chinesischen Volkskongress sitzen noch mehr Deputierte als in den nächsten vier Jahren unter der Kuppel des Berliner Reichstagsgebäudes. Zugegeben – mit 3000 liegt Peking ein deutliches Stück vorn gegenüber den 709 MdB´s an der Spree. Dafür aber zählt das Reich der Mitte mit rund 1,4 Milliarden Menschen auch 18 mal so viele Menschen wie unsere Bundesrepublik. So gesehen ist der Begriff XXL-Bundestag doch kein bisschen hochgegriffen.

Als das Ganze (seinerzeit noch als Erlernen von Demokratie) vor 68 Jahren im westlichen deutschen Teilstaat anfing, da versammelten sich im eilends aufgepeppten Plenarsaal der früheren Bonner Pädagogischen Akademie ganze 402(!) Abgeordnete. Aus elf Parteien! Gut, damals war die DDR noch nicht dabei. Aber selbst nach deren Beitritt und der Bildung des neuen Gesamtdeutschlands am 3. Oktober 1990 wuchs die Zahl der direkt gewählten und über Landeslisten entsandten Volksvertreter auf maximal 669 an. Und jetzt also 709. Aus (vergleiche 1949) sieben Parteien plus ein paar Ex-AfD-Absprengsel. Aus dem Evangelium des Lukas kennen wir das Wunder der Brotvermehrung. Der Politik gelang das Mirakel der Mandatsvermehrung.

Es gab genug Warnungen

Dabei hatte es im Vorfeld der Wahl wahrhaftig nicht an gewichtigen Stimmen gefehlt, die vor dieser Entwicklung gewarnt hatten. Der langjährige, jetzt leider ausgeschiedene Bundestagspräsident Norbert Lammert war sogar mit einem konkreten Plan zur zahlenmäßigen Begrenzung an die Öffentlichkeit getreten. Es würde zu weit führen, hier im Einzelnen die diversen Gründe aufzuzählen, mit denen die Parteien ihre jeweiligen politischen und juristischen Bedenkenträger losschickten. Tatsache jedenfalls ist, dass jedes Ansinnen bereits im Keim erstickt wurde, mithilfe einer mutigen Reform diesem Zuwuchs-Unsinn ein Ende zu bereiten. Ergebnis: Es mussten nicht bloß 111 zusätzliche Stühle angeschafft und in den Plenarsaal gequetscht werden. Nein, der ganze Spaß mit dem aufgeblähten Abgeordneten-Plus einschließlich dessen erweiterten Mitarbeiterstab kostet die Steuerzahler – also uns alle – rundgerechnet 300 Millionen Euro mehr.

So weit, so schlecht. Denn während dieser Legislaturperiode, also in den vor uns liegenden vier Jahren wird sich an diesem ärgerlichen Zustand nichts mehr ändern. Und danach? Zweifel sind immerhin angebracht. Denn zum menschlichen Wesen gehört es erfahrungsgemäß, dass es sich rasch an angenehme Dinge gewöhnt. Und wer würde schon gern zum Beispiel auf ein Parlamentsmandat verzichten – selbst wenn der Grund dafür (sozusagen um einer höheren Vernunft wegen) theoretisch noch so überzeugend wäre?! Dafür wenigstens – also für das erbitterte Verteidigen eines vermeintlichen Besitzstandes – müsste eigentlich die weitaus überwiegende Mehrheit hier im Lande vollstes Verständnis aufbringen. Gehört ein solches Verhalten, zumeist auch noch in Form von organisierter Gruppendynamik unter dem Schlagwort „Gerechtigkeit“ doch zu beliebtesten Formen der so gern beschworenen „Solidarität“ in Deutschland. Dass dabei „Gerechtigkeit“ höchst unterschiedlich ausgelegt wird – was soll´s.

Verrohung der Sitten

Konzentrieren wir uns mithin auf das neue Parlament. Der Erwartungskatalog enthält ja auch schon eine ganze Reihe von Eintragungen. Es werde, hoffen die einen, endlich wieder lebendiger zugehen im „Hohen Haus“. Schließlich gebe es doch mit den Sozialdemokraten wieder einmal eine richtige Opposition. Andere, wiederum, fürchten eine Verrohung zumindest der Umgangssitten durch die von der AfD angekündigten Provokationen. Wobei sich freilich die Frage stellt, ob es für verbale Entgleisungen überhaupt der „Alternativen“ bedarf. Allein schon die Vorstellung, dass eine sprachlich spät pubertierende Oppositionschefin namens Andrea Nahles dem Gegner „in die Fresse“ zielt, hat ohne Zweifel etwas Prickelndes. Außerdem ist die Überschreitung der für ein ziviles Zusammenleben notwendigen Sitten und gegenseitigen Respektierungen doch ohnehin längst Gang und Gäbe in unserer Gesellschaft. Wer digital auf niedrigstem Niveau grölt, erntet den größten Applaus. Glaubt er wenigstens.

In seiner Antrittsrede als neuer Bundestagspräsident hat Wolfgang Schäuble (CDU)  Fairness angemahnt und für gegenseitigen Respekt geworben. Natürlich wäre es sehr zu wünschen, wenn diese Worte auf fruchtbaren Boden fielen. Höflichkeit, Achtung für den Andersdenkenden und sachlich-inhaltliche, auch scharfe Auseinandersetzung schließen sich ja keineswegs aus. Im Gegenteil: Der Wert und die Treffsicherheit von überzeugenden Argumenten ist erfahrungsgemäß umso wirkungsvoller, je pointierter und geschliffener sie vorgebracht werden. Die Frage ist allerdings, ob diese Wahrheit auch in Zeiten noch gilt, in denen die „Quote“ und der Mausklick längst auch die Qualitätsprüfung politischer Auftritte (vielleicht sollte man von „events“ sprechen? bestimmt.

Parlament statt Talkshow

Wolfgang Schäuble hat zudem die Hoffnung ausgedrückt, dass es dem Bundestag gelingen möge, sich nach außen hin wieder als das Zentrum der Politik in Deutschland zu präsentieren. Konkret: Raus aus den mitunter wirklich unsäglichen Talkshows und hinein in das Parlaments-Plenum. Das könnte freilich ein frommer Wunsch bleiben. Natürlich schwärmen vor allem die Älteren noch immer von den legendären Redeschlachten im alten Bonner Bundestag – mit Haudegen wie Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß, Helmut Schmidt und wie sie alle hießen. Aber das waren Angehöriger anderer Generationen mit zum Teil unglaublichen Lebenserfahrungen. Solche Leute kann man sich nicht backen. Wer heute seine politische Karriere (und das ist leider die Regel) auf das Durchlaufen der drei Säle (Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal) baut, und dies zumeist auch noch unter Umgehung eines Erwerbsberufs, der muss ja einen anderen Zugang zu Begriffen wie Sozialpolitik oder Armut haben als einer, der wirklich einmal darunter gelitten hatte.

Trotz allem wollen wir mal ausnahmsweise nicht unken. Sportliche Fairness verlangt, dass auch die Politik und deren Akteure eine Chance bekommen, sich zu bewähren. Darum also: Auf in den Kampf!  

Gisbert Kuhn   

 

 

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