Gerettet in letzter Minute
von Gisbert Kuhn
Die Flucht der Dichter und Denker vor den Nazis
Es gehört – besonders für jüngere Menschen – schon eine beträchtliche Fantasie dazu, sich heutzutage in die spannungs- und angstgeladene Situation zu versetzen, wie sie vor nahezu 80 Jahren in Frankreich herrschte. Seit Hitlers Machtergreifung 1933 war (neben Brüssel und Amsterdam) vor allem Paris zu einem Sammlungsbecken zunächst deutscher und österreichischer, später aber auch polnischer, tschechischer, ungarischer und russischer Flüchtlinge geworden. Die meisten waren Juden, aber keineswegs alle. Fast durchweg allerdings gehörten sie zur geistigen Elite ihrer Länder – Dramatiker, Schriftsteller, Schauspieler, Kabarettisten, Journalisten, Verleger, Filmemacher, Philosophen und Maler. Aber auch Juristen, Wirtschaftsexperten, Hochschullehrer, Wissenschaftler, Nobelpreisträger. Kurz: Es war praktisch die gesamte kritische und künstlerische Intelligenz des mitteleuropäischen Raumes, die flüchten musste, um Verhaftung, Folter und Tod zu entgehen. Nicht selten führte der Weg über Wien, Budapest, Prag und die Schweiz, um schließlich in Paris oder Südfrankreich zu enden.
Ein Lese- und Lernbuch
Diese Zeit mit ihren Schicksalen zu beschreiben, die einstmals nicht selten weltberühmten Namen vor dem Verschwinden im Nebel des Vergessens zu bewahren, hat sich der österreichische Journalist und langjährige Chefredakteur des Wiener Nachrichtenmagazins „Profil“, Herber Lackner, zur Aufgabe gestellt. Das Ergebnis intensiver Recherchen ist jetzt als Buch erschienen mit dem Titel „Die Flucht der Dichter und Denker. Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen“. Dabei legt der Autor das Hauptaugenmerk auf die Geschehnisse nach dem Sieg der Wehrmacht über Frankreich und die Teilbesetzung des Landes. Lackners Arbeit ist Lese- und Lernbuch zugleich. Sein Schreibstil ist packend, die Personenbeschreibung fesselnd. So vermittelt er Geschichte über erzählte Geschichten.
Und die künden keineswegs alle von Heldentum. Da wird – beinahe fassungslos – von den glanzvollen Einladungen des (zunächst noch) gut situierten Ehepaars Franz Werfel und (der dünkelhaften Antisemitin) Alma Werfel-Mahler in ihrer südfranzösischen Villa geschrieben, während der Dichter Walter Benjamin trotz bereits geglückter Flucht nach Spanien verzweifelt Selbstmord begeht. Und da ist das abwertende Zitat des Wiener Autors und Kritikers Alfred Polgar zu finden: „Diese Vielzahl an Leidensgenossen ist kein Trost für mich. Ich war mein Leben so ungern in der Herde“.
Namen wie aus dem Who is who
Wer zählt die Titel, nennt die Namen, die damals in Frankreichs Süden zusammenkamen? Immer in der Furcht, von den dortigen Behörden den Häschern von Gestapo und SS ausgeliefert zu werden. Es ist ein „who is who“ des deutschsprachigen und europäischen Geistesadels: Heinrich Mann („Der blaue Engel“), Bruder des Nobelpreisträgers Thomas Mann („Die Buddenbroks“), und sein Neffe Golo, später ein gefeierter Historiker; der Schriftsteller und zeitweilige Stalin-Bewunderer Lion Feuchtwanger („Jud Süß“), der bereits erwähnte Walter Benjamin, Friedrich Torberg, die Werfels, die in Mainz geborene und den Krieg im mexikanischen Exil überstehende Autorin Anna Seghers, der Komponist Robert Stolz („Das Land des Lächelns“), der später weltberühmte Filmregisseur Billy Wilder, der Maler Marc Chagall und, und, und…
Es sind Geschichten von Hilfe, List und Tapferkeit. Aber auch von Undankbarkeit. Aufgrund eines verzweifelten telegrafischen Hilferufs von Walter Mehring hatte der bereits länger (und erfolgreich) in den USA lebende Thomas Mann (mit Unterstützung der Präsidentengattin Eleonore Roosevelt) in New York ein Unterstützungs-Kommitee für die in Europa Verfolgten gegründet und Geld gesammelt. Mit diesen Dollars wurde der junge amerikanische Journalist Varian Fry nach Frankreich geschickt, wo es ihm gelang, mit Hilfe echter und gefälschter Pässe rund 2000 Personen die Flucht über Spanien nach Portugal und von dort aus in die USA zu ermöglichen. Kein einziger davon, fand Herbert Lackner heraus, hat sich später jemals bei seinem Retter bedankt oder ihn auch nur einmal kontaktiert.
Parallelen zur Gegenwart?
Kritiker haben Lackner vorgehalten, allzu leichtfertig die Geschehnisse von damals mit der gegenwärtigen Massenflucht aus Nah- und Mittelost sowie diversen afrikanischen Gebieten gleichzusetzen. Tatsächlich erscheint dieser Vergleich („Schlepperbanden damals wie heute“) ziemlich konstruiert. Die einzig erkennbare Parallele mag die Abwehrhaltung heute wie damals gegenüber den Fremden sein. Darüber kann man streiten, es mindert aber nicht den Wert des Buches. Allerdings hätte einem aufmerksamen Lektor nicht durchgehen dürfen, dass (Seite 84) nicht Wilhelm, sondern Otto vom Bismarck im Spiegelsaal von Versailles 1871 das deutsche Kaiserreich ausrief und (Seite 138) Donegal keine englische Grafschaft, sondern ein irisches County ist.
Herbert Lackner
Die Flucht der Dichter und Denker
Verlag: Ueberreuter 2017
Gebundene Ausgabe, 220 Seiten
ISBN: 978-3-8000-7680-2
€ 22,95