Rezension von Dr. Aide Rehbaum

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Francesca Melandri © Elisabetta Claudio

Der Roman von Francesca Melandri bietet einen tiefen Einblick in die Gesellschaft eines Landes, in dem mit den richtigen Beziehungen alles möglich ist. Sie entwirft das Bild Italiens vom Ersten Weltkrieg bis 2012, mit einem Schwerpunkt auf der Kolonialzeit und deren Nachwirkungen. Obwohl Melandri zwischen den Zeitabschnitten und Perspektiven dreier Generationen hin und her springt, wird die Historie nicht verwirrend. Alles ist aufgehängt an der Geschichte eines Mannes: Attilio Profeti, Jahrgang 1915.

Dieser Mann, dem während der Eroberung des Horns von Afrika mit minimalem eigenen Engagement das Glück auch hold ist, wenn es lebensgefährlich wird, fährt ohne Skrupel sein ganzes Leben lang mehrgleisig. Von Geburt an von der Mutter bevorzug, laviert er sich mit Korruption, Intrigen, Erpressung und Verschweigen durch Beruf und Familie.

Attilio hängt sein politisches Mäntelchen nach dem Wind, diskret, indifferent und opportunistisch nutzend, was er beobachtet. Der geborene Steigbügelhalter. Sein Aussehen, das zufällig dem Idealbild des Faschismus entspricht, hilft ihm, seine Herkunft aus einer kleinbürgerlichen Familie ausgleichen. Dass er noch nicht einmal als Mitläufer vor Gericht gezogen wird, ist ihm kränkender Beweis, zu unwichtig zu sein.

Nur von Prostituierten auf den Umgang mit dem anderen Geschlecht vorbereitet, gelangt Attilio nach Afrika. Aufkommende Gefühle schaltet er unbehaglich aus. Drei Frauen spielen in seinem Leben eine Rolle, die erste, mit der er in Addis Abeba zusammenlebt, verleugnet er lebenslang aus Scham, weil sie schwarz ist und eine Mischehe verboten, die zweite heiratet er, obwohl er sie genauso wenig liebt wie die dritte, mit der er sie jahrelang betrügt. Die darf ihn nach der Scheidung von der zweiten pflegen.

Auch zu keinem der Kinder hat der Narziss eine innere Beziehung. Die Briefe aus Äthiopien hat er zwar aufgehoben aber nie beantwortet. Als er in den 1980er Jahren erfährt, dass sein äthiopischer Sohn im Gefängnis gefoltert wird, schafft er es, sich einer offiziellen Regierungsdelegation anzuschließen, die aus vordergründig humanitären Gründen Äthiopien bereist. Es gelingt ihm auf dubiose Weise, den Sohn aus dem Gefängnis zu holen, ohne sich zu erkennen zu geben.

Als ein Afrikaner in Rom vor der Tür steht, der sich mit Ausweis als Enkel zu erkennen gibt, fällt die Familie aus allen Wolken. Seit mehreren Jahren ist der politisch Verfolgte unterwegs und von Libyen aus übers Mittelmeer geflüchtet. Attilios Tochter Ilaria, eine Lehrerin, die progressiv gegen Korruption, Postenschacher und Verlogenheit zu Felde zieht, beginnt zu recherchieren. Je mehr sie erfährt, umso mehr gerät ihr Weltbild ins Wanken.

Psychologisch schlüssig und empathisch veranschaulicht Melandri, wie Ideologie und Machtstreben Menschen und Gesellschaften beschädigen. Die Autorin hat in zehnjähriger Recherchearbeit das offizielle Verschweigen in Bibliotheken, Archiven, Museen, Behörden in Italien und Äthiopien durchbrochen, Zeitzeugen befragt, Dokumente ausgewertet und Dinge ausgegraben, die keinem Land zu Ruhm gereichen. Auch die aktuelle Situation illegaler Einwanderer und die Mühlen bei Polizei und Ausländerbehörde zeigt sie eindrücklich und zutreffend.

Am Schicksal weniger Personen stellt Melandri meisterhaft die italienische Politik bloß, sowohl die unter Mussolini als auch die Berlusconis. Was wir immer schon ahnten, findet Bestätigung. Der Autorin ist ein außergewöhnlicher Roman gelungen, der nicht nur jene bewegen und erschüttern wird, die Vorkenntnisse in Kolonialgeschichte haben.

 

Francesca Melandri , geboren in Rom, hat sich in Italien zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht. Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr drittes Buch »Alle, außer mir« stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

 

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