Von Michael Stallkamp

Max Morlock Stadion in Nürnberg © Michael Stallkamp

In Nürnberg treffen zwei Legenden des deutschen Fußballs aufeinander. Der neunmalige deutsche Fußballmeister 1. FC Nürnberg und der siebenmalige Champion Schalke 04. Lange vorbei sind freilich die Zeiten, in denen man als gemeinsame Rekordhalter auf die anderen deutschen Kickerclubs herabblickte. Heute trifft man sich im Abstiegskampf der 1. Bundesliga. Auseinandersetzungen der Anhänger sind nicht zu befürchten. Die beiden Vereine sind seit 1980 durch eine im Fußball ganz seltene innige Fanfreundschaft verbunden. Ich freue mich auf ein besonderes Spiel und natürlich auf die Stadionwurst in Nürnberg. Hat sie doch einen in der ganzen Republik bekannten Namen: Nürnberger.

Auf dem Weg zum, vor und im Stadion erlebe ich Ungewohntes. Nürnberger und Schalker stimmen sich in großer Eintracht mit gemeinsamen Liedern, Wechselgesängen und Schwenken des extra für dieses Match kreierten identischen Fanschals auf das Spiel ein. Einige tragen auch das Sondertrikot zu dem Treffen, das der Ausrüster beider Vereine jeweils mit Gestaltungselementen des gegnerischen Vereins veredelt hat. So lässt sich auch das Phänomen Fanfreundschaft trefflich vermarkten. Um die Entstehung dieser besonderen Beziehung ranken sich viele Geschichten. In den martialischen Varianten fand man über die gemeinsame Verfolgung von Bayern-München-Anhängern zueinander. Andere Versionen beschreiben eher romantische Zufallsbegegnungen auf langen Bahnfahrten zu Auswärtsspielen in der gleichen Region oder gegenseitige Hilfe in finanziellen Notsituationen als Geburtsstunde. Allen Geschichten gemein ist, die Fanfreundschaft geht von Mitgliedern einzelner Fanclubs aus , ist eine Graswurzelbewegung und keinesfalls von Vereinsspitzen verordnet.

Alles im Nürnberger Stadion atmet Fußballtradition: In dem in die Jahre gekommenen Bauwerk wird das Spielfeld immer noch von einer Laufbahn umrahmt, auf den Tribünen gibt es kaum Logen, und die Sitze haben ihre besten Zeiten hinter sich. All das wird liebevoll kaschiert durch die begeistert inszenierten Erinnerungen an die glorreiche Vergangenheit des FCN. Die beeindruckende Karriere Max Morlocks, dessen Namen das Stadion trägt, wird auf riesigen Transparenten gewürdigt. Die einzelnen Zuschauerblöcke tragen zudem die Namen anderer Nürnberger Spielergrößen, deren Fußballbiographien auf Plakaten glorifiziert werden. Lockere Sprüche verbinden die Vereinsgeschichte geschickt mit dem aktuellen Zeitgeist. Da werden sportliche Erfolge, Bodenständigkeit und Vereinstreue Max Morlocks den aktuellen Fans mit Aussagen wie „Deutscher Meister, Weltmeister, Kioskbesitzer“ oder „900 Spiele, 700 Tore, 1 Verein“ nähergebracht. Um neue Vereinsmitglieder zu gewinnen, werden auf Werbeplakaten schon mal die Namen von Vereinsikonen verhunzt. „Ein Angebot, das dich vom Stuhlfauth“, (Heinrich „Heiner“ Stuhlfauth). „Bei uns stimmt einfach die Mintalität“, (Marek Mintal). „Ey, das mit uns wird niemals Entenmann“, (Willi Entenmann). Eine von vielen dargestellten Anekdoten um Max Morlock entlarvt drastisch, dass Spitzenpolitiker sich zwar gerne im Erfolg von Fußballern sonnen, aber nicht zwingend über großen Fußballsachverstand verfügen. 1953 findet in Köln ein Länderspiel gegen Österreich statt. Vor dem Anpfiff schreitet Bundespräsident Theodor Heuss die aufgereihte deutsche Mannschaft ab. Morlock, mit 170 cm Körperlänge mit Abstand der kleinste Spieler, steht als letzter in der Reihe. „Und Sie sind sicher der Torwart“, stellt Heuss fest. Um dem Staatsoberhaupt eine Peinlichkeit zu ersparen, antwortet Morlock blitzschnell: „Ja, Herr Bundespräsident, ich bin der Torwart.“ Wie sagte schon Altbundestrainer Sepp Herberger, der an anderer Stelle im Stadion zitiert wird, “In kritischen Situationen war immer Max Morlock mein Mann. Auf ihn konnte ich mich immer verlassen.“

Die Stadionwurst passt auf ganzer Linie in dieses traditionelle Umfeld. Das besonders freundliche Verkaufspersonal erklärt mit deutlichem Lokalstolz die regionale Besonderheit „3 im Weckla“. Drei kurze, dünne Schweinswürste liegen in einem runden Brötchen. Schon der erste Biss offenbart, die Würstchen sind perfekt gebraten und äußerst markant gewürzt, ohne dass sich zu viel Salz oder eine andere einzelne Zutat in den Geschmacksvordergrund schiebt. Sie sind mittelfest und saftig. Das fränkische Weckla ist schön kross und verdankt seinen kräftigen Geschmack offensichtlich einer Mehlmischung aus verschiedenen Getreidearten. Es begleitet die Würstchen hervorragend, ohne zu dominieren. Diese gelungene Kombination lässt nachempfinden, warum die „Nürnberger Rostbratwurst“ einen so guten Ruf hat. Die Verkostungen weiterer Testwürste bestätigen die außerordentlich guten ersten Eindrücke. Für 3,30 Euro und ausschließlich gegen Bargeld bekomme ich endlich wieder ein herausragendes Bratwursterlebnis geboten. Mit berechtigtem Selbstbewusstsein wirbt der lokale Hersteller, ein Konkurrent der ebenfalls in Nürnberg Würstchen produzierenden Familie Hoeneß, großflächig für sein Produkt.

Zufrieden suche ich meinen Platz auf der Gegentribüne. Im Stadion ist eine große gemeinsame Choreographie angekündigt. Die Schalker hatten sich im Hinspiel nicht lumpen lassen und für kolportierte 22.000 Euro Kosten beeindruckende Bilder auf die Tribünen gezaubert. Dem wollen die Nürnberger in nichts nachstehen. Da es für die Fanclubs in Nürnberg ehrenrührig ist, zur Deckung der Choreokosten Geld vom Verein oder von Sponsoren zu nehmen, werden Geldspenden und die mit Pfand versehenen Getränkebecher gesammelt. So werde ich erstmals Teil einer Stadionchoreographie, als Spender und als Mitwirkender. Auf meinem Platz finde ich genaue Anweisungen und zwei blaue sowie einen weißen Luftballon vor, die ich weisungsgemäß aufblase. Dann helfen wir alle, eine riesige blaue Stoffbahn glattzuziehen, die die Tribüne von oben bis unten über eine Breite von mindestens 25 Sitzen bedeckt. Mit der linken Hand an der Stoffbahn zerrend und mit der rechten, am Rande des Tuchs, die Luftballons wedelnd, singe ich gemeinsam mit dem ganzen Stadion erst die Schalker und dann die Nürnberger Hymne. Jeder Zuschauer in den beiden Fankurven und auf der Gegentribüne ist nur ein kleines Mosaiksteinchen in diesem Kunstwerk, das er in seiner Gesamtheit auch gar nicht sehen kann, dennoch stellt sich ein sehr prickelndes Gemeinschaftsgefühl ein. Was für ein emotionaler Auftakt zu einem Fußballspiel.

Für jeden, der Fußballspiele als gesellschaftliches Kulturereignis zu würdigen weiß, ist dieser Abend in Nürnberg ein grandioses Erlebnis, trotz eher schmaler Fußballkost auf dem Spielfeld. Letztlich trennen sich blau-weiße Schalker Not (Tabellenplatz 15) und rot-schwarzes Nürnberger Elend (Tabellenplatz 17) 1:1. Dennoch singen die Nürnberger mit lautstarker Unterstützung ihrer Freunde aus dem Pott: „Die Legende lebt, die Legende lebt, wenn auch der Wind sich dreht. Unser Club wird niemals untergeh’n!“ Dann wandern beide Fangruppen in großer Zahl gemeinsam zur World of Nightlife, einer bekannten Feierhalle. Pflege der Freundschaft ist angesagt.

Die traditionelle Nürnberger Stadionwurst „3 im Weckla“ überzeugt und muss sich bisher nur der Münchener Wurst geschlagen geben: Vorläufig Tabellenplatz 2 in der Bratwurstliga vor Leverkusen, Leipzig, Mainz und Augsburg als weitere Stadien in der Spitzengruppe.

Wird fortgesetzt.

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